Gesundheitswesen 2014; 76 - A38
DOI: 10.1055/s-0034-1386888

Kompetenzentwicklung mit Vignetten – ein Beispiel aus der Primärversorgung

A Doktor 1, ML Herrmann 2, BP Robra 1
  • 1Institut für Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie (ISMG), Medizinische Fakultät, Otto-von-Guericke Universität Magdeburg
  • 2Institut für Allgemeinmedizin, Medizinische Fakultät, Otto-von-Guericke Universität Magdeburg

Einleitung/Hintergrund: Vignetten können als Medium des Wissens- und Erfahrungsaustausches und zur Abbildung von Entscheidungsprozessen dienen und somit zur Kompetenzentwicklung in der medizinischen Fortbildung beitragen [1,2,3]. Daher wurde dieses Instrument im Rahmen einer Studie zur hausärztlichen Arzneimittelpriorisierung eingesetzt [3]. Die Prävalenz von Polypharmazie bei stationär entlassenen, multimorbiden, älteren Patienten steigt kontinuierlich an [4]. Es sind i.d.R. Hausärzte, die bezüglich der Entlassungsmedikation Priorisierungsentscheidungen treffen [5] und die daher im Fokus der vorliegenden Studie stehen. Sie will herausfinden, wie Hausärzte Entscheidungen zur Arzneimittelpriorisierung treffen. Ein methodischer Ansatz ist die Darstellung des Reflexionsprozesses der Hausärzte in ihrer Auseinandersetzung mit den Vignetten.

Daten/Methodik: 44 Hausärzte in Sachsen-Anhalt trugen 2010 und 2011 im Rahmen von jeweils drei aufeinanderfolgenden Fokusgruppentreffen zur Entwicklung von Fallvignetten bei und wurden mittels teilstandardisiertem Fragebogen befragt. Anhand der Arbeit mit exemplarischen Entlassungsbriefen wurden erste Determinanten von Arzneimittelpriorisierungsentscheidungen erkennbar. Sie wurden in Fallvignetten gefasst, die idealtypische Situationen der Arzneimitteltherapie des älteren Menschen in der Primärversorgung beschreiben. In einem zweiten Treffen der selbigen Gruppen wurden diese Vignetten besprochen und inhaltlich konkretisiert, um sie in einem letzten Treffen zu erproben und zu validieren. Die Transkripte der Fokusgruppen wurden inhaltsanalytisch ausgewertet.

Ergebnisse: Entscheidungen zur Priorisierung von Arzneimitteln basieren auf Patientendaten (z.B. Alter, Diagnosen), weitergehenden patientenbezogenen Determinanten (z.B. Patientensicherheit) sowie Rahmenbedingungen der allgemeinmedizinischen Versorgung (z.B. Stadt-/Landpraxis) [3]. Pauschal vereinfachen lässt sich die Priorisierung von Arzneimitteln laut Hausärzten nicht, so dass keine einfachen klinischen Behandlungsfade (clinical pathways) als Handlungsempfehlung erstellt werden können. Jedoch ermöglichten der kollegiale Austausch und die Auseinandersetzung mit Startvignetten als didaktischem Mittel die Entwicklung von Forschungs- und Fortbildungsvignetten, die komplexe, für den Praxisalltag relevante Versorgungsproblematiken im Bereich Polypharmazie abbilden. Die Analyse der Fokusgruppentranskripte zeigt, dass Hausärzte ihre eigene praktische Arbeit mit ihren Patienten (reflective practice) und ihre impliziten Erfahrungen mit Arzneimittelpriorisierungsentscheidungen bei älteren Menschen reflektieren und sie in den Vignetten explizit machen konnten.

Diskussion/Schlussfolgerung: Die Arbeit mit Fallvignetten und die Reflexion der eigenen Praxis mit Kollegen können zu einer Kompetenzentwicklung auf Seiten der Hausärzte führen. Erfahrungen mit eigenen Arzneimittelpriorisierungsentscheidungen werden im Medium der Vignetten mitgeteilt und expliziert. Die Entwicklung und Nutzung der Vignetten zeigt Potential für Forschung und Fortbildung. In einer vignettengestützten Fortbildung könnten ambulant und stationär tätige Ärzte auch gemeinsam profitieren, wenn sie Szenarien zur Medikation älterer Menschen besprechen. Welche Veränderungen des Verordnungsverhaltens folgen, muss noch gezeigt werden.