Gesundheitswesen 2014; 76 - A18
DOI: 10.1055/s-0034-1386868

Warum die personbezogen Kontextfaktoren der ICF nicht klassifiziert werden sollten

S Brüggemann 1, A Nebe 1, M Ostholt-Corsten 1, S Weinbrenner 1
  • 1Deutsche Rentenversicherung Bund, Berlin

Hintergrund: Mit der 2001 eingeführten Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) [1] liegt eine Klassifikation der Krankheitsfolgen vor, die anders als andere gesundheitsrelevante Klassifikationen die sog. Kontextfaktoren mit berücksichtigt. Kontextfaktoren unterteilen sich in Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren, von denen letztere – anders als alle anderen Faktoren der ICF -nicht klassifiziert sind, sondern nur beispielhaft aufgeführt werden. 2010 wurde von einer Arbeitsgruppe ein Vorschlag für die Klassifikation personbezogener Faktoren vorgelegt [2], um diese mutmaßliche Lücke zu schließen. Dies wurde von verschiedenen Seiten als problematisch angesehen [3, 4, 5].

Methodik: Die Notwendigkeit, personbezogene Faktoren zu klassifizieren, wurde im Rahmen von Expertengesprächen und einer internationalen Literaturrecherche analysiert.

Ergebnisse: Es zeigte sich eine Vielzahl von Gründen, die gegen die Klassifikation der personbezogenen Faktoren sprach. Diese lassen sich wie folgt untergliedern:

  • Methodisch-formale Aspekte: Items, die laut dem Vorschlag den personbezogenen Faktoren zugeordnet werden, erscheinen bereits vielfach in anderen ICF-Komponenten. Dies widerspricht einerseits den taxonomischen Prinzipien der WHO, andererseits führt ein nationaler Alleingang dazu, dass die ICF international nicht mehr einheitlich ist. Ungeklärt bleibt, ob für die verwendeten Begrifflichkeiten ein einheitliches Verständnis gilt und inwieweit sie operationalisierbar und messbar sind. Darüber hinaus zu kritisieren ist das formale Vorgehen im Erstellungsprozess der Systematik. Es wurden keine empirischen Erhebungen durchgeführt, eine wissenschaftliche Begleitung fehlt und Betroffene wurden nicht mit einbezogen.

  • Ethisch-moralische Aspekte: Durch eine Klassifizierung der personbezogenen Faktoren kann es – nicht nur durch nicht-sachgerechte Nutzung – zu Stigmatisierung und Diskriminierung der begutachten Menschen kommen. Der Gültigkeitsanspruch resultierender Aussagen ist nicht geklärt. Hinzu kommt eine schwierige Diskussion um den Begriff der Normalität.

Fazit: Die personbezogenen Faktoren wurden von der WHO bewusst nur beispielhaft aufgeführt, da weltweit zu große soziokulturelle Unterschiede bestehen, die eine einheitlich strukturierte Systematik erschweren. Personbezogene Faktoren sind sensibler als andere Komponenten der ICF. Es besteht die Gefahr einer nicht sachgerechten oder sogar missbräuchlichen Nutzung. Nicht zuletzt widerspricht der nationale Alleingang einem Hauptziel der ICF, nämlich eine einheitliche und standardisierte Sprache zur Erfassung von Krankheitsfolgen zur Verfügung zu haben. Weitere wissenschaftliche Untersuchungen sowohl ethischer als auch empirischer Art sind erforderlich, um die Thematik einer Klassifizierung personbezogener Faktoren abschließend zu bewerten. Aus Sicht der Deutschen Rentenversicherung ist die vorgeschlagene Klassifizierung der persönlichen Kontextfaktoren zu diesem Zeitpunkt von zweifelhaftem Nutzen. Es wird beim gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse kein Bedarf gesehen, diese Klassifizierung weiterzuentwickeln, da die Nutzen-Schaden-Relation zum jetzigen Zeitpunkt ein Überwiegen der potentiellen Schäden wahrscheinlich macht.