Klinische Neurophysiologie 2014; 45(02): 83-84
DOI: 10.1055/s-0034-1372592
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Tiefe Hirnstimulation – best clinical practise und neue experimentelle Felder

Deep Brain Stimulation – Best Clinical Practise and New Experimental Areas
A. Schnitzler
,
L. Timmermann
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Publication Date:
01 July 2014 (online)

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Univ.-Prof. Dr. med. Alfons Schnitzler
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Univ.-Prof. Dr. med. Lars Timmermann

In den vergangenen 20 Jahren hat die tiefe Hirnstimulation in Deutschland eine dramatische Entwicklung durchgemacht und soll in diesem Themenheft der Klinischen Neurophysiologie im Fokus stehen. Nach ersten experimentellen Versuchen, die Erfahrungen aus Grenoble nach Deutschland zu übertragen, um damit vor allen Dingen schwerst betroffene Patienten mit Morbus Parkinson oder Tremor-Syndromen zu therapieren, ist inzwischen die tiefe Hirnstimulation gerade in den Kernindikationen Morbus Parkinson, Tremor und Dystonie zu einem Standardverfahren an vielen Universitätskliniken in Deutschland geworden. Die Standardisierung geht einher mit einer zunehmenden Frage nach einer präzisen Indikationsstellung und damit der Selektion von Patienten mit einem individuell günstigen Nutzen-Risiko-Verhältnis. Gerade beim Morbus Parkinson haben wir hier durch die Ergebnisse der EARLY-STIM-Studie durch die German DBS-Study-Group und französische Zentren einen grundlegenden Wandel in der Sichtweise der Indikationsstellung erleben können: Während bis noch vor wenigen Jahren die tiefe Hirnstimula­tion als ultima ratio gegolten hat, ist durch die Ergebnisse der EARLY-STIM-Studie deutlich geworden, dass bereits bei ersten Fluktuationen insbesondere jüngere Patienten mit Morbus Parkinson von der tiefen Hirnstimulation profitieren können. Dies bezieht sich erfreulicherweise nicht nur auf motorische Skalen, sondern auch auf ­Lebensqualität und soziale Integration unserer Patienten. Interessanterweise scheint dieses operative Verfahren nicht mit einer Zunahme von Risiken für die Patienten verbunden zu sein, sondern die Risiken der Fortführung und Steigerung der medikamentösen Therapie scheinen die Risiken einer Operation aufzuwiegen. Insofern muss in den nächsten Jahren darüber nachgedacht werden, inwieweit insbesondere bei Morbus Parkinson, schon früher dieses neuromodulatorische Verfahren der Tiefen Hirnstimulation auch in der Routine zur Anwendung kommt. Hier werden weitere Studien notwendig sein. Diese hochkomplexe Fragestellung wird von Witt et al. in einem ersten Artikel dieses Sonderheftes fokussiert.

Neben den bereits etablierten großen Erfahrungen beim Morbus Parkinson ist eine zentrale Indikation von Beginn der läsionellen Stereotaxie an die Behandlung des Tremors gewesen. Die Tremor-Erkrankungen sind oftmals medikamentös nur eingeschränkt, teilweise auch schlecht behandelbar. Auf der anderen Seite ist gerade bei manueller Tätigkeit ein Tremor höchst behindernd, das Stigma der Erkrankung ist insbesondere bei jüngeren Patienten oftmals noch höher als die motorische Einschränkung. Insofern hat sich der Tremor als fester Bestandteil der Indikationen der tiefen Hirnstimulation weiter etabliert. Pathophysiologisch ist die Unterbrechung pathologischer oszillatorischer Aktivität ein neuromodulatorisch hoch interessanter Ansatz. In Bezug auf die Nebenwirkungen, wie Dysarthrie und Gangstörungen, wird im Moment intensiv diskutiert, ob ­moderne Stimulationsverfahren und möglicherweise auch die Modifikation von klassischen Zielpunkten weg vom Vim im Thalamus, hin zu subthalamischen Arealen wie der posterioren subthalamischen Area (PSA) eine Verbesserung für unsere Patienten ergeben könnte. Diese Entwicklungen werden in einem Artikel von Pedrosa et al. näher beleuchtet.

Neben den klassischen Indikationen Morbus Parkinson und Tremor sind die Dystonien ein weiterer fester Bestandteil der tiefen Hirnstimulation. Ein sehr interessanter Aspekt ist in Zukunft die Ausweitung der Indikation auf sekundäre Dystonien, wie z. B. die dyston-dyskinetische Störung nach frühkindlichem Hirnschaden. Hier sind in den letzten Jahren grundlegende Arbeiten gemacht worden, um den Effekt der tiefen Hirnstimula­tion bei diesen medikamentös de facto kaum therapierbaren Patienten zu finden. Diese bisherigen Bemühungen werden in einem Artikel von Koy et al. dargestellt. Im Frühjahr 2014 ist die Deutsche Multicenterstudie zur tiefen Hirnstimulation bei frühkindlichem Hirnschaden initiiert worden, sodass auch hier unsere deutsche Studiengruppe versuchen wird, die Evidenz zu stärken.

Neben den klassischen Indikationen Morbus Parkinson, Tremor und Dystonie im Bereich der Neurologie hat sich in den letzten Jahren abgezeichnet, dass in den Indikationen Depression, Zwang und dem Tourette-Syndrom auch psychiatrische Symptome sinnvoll und effektiv durch die tiefe Hirnstimulation verbessert werden können. Dies ist insbesondere bei Patienten mit medikamentös nicht therapierbaren Störungen eine sich neu eröffnende Option. In einem interdiszipli­närem Artikel stellen Jens Kuhn und Kollegen diese neuen Therapieoptionen für das Tourette-Syndrom dar: Gerade bei diesem Syndrom ist die große Anzahl an unterschiedlichen pathophysiologischen Überlegungen und die daraus resultierenden unterschiedlichen Zielpunkte der tiefen Hirnstimulation sehr inhomogen, sodass sich daraus ein schwierig einzuschätzendes Bild der klinischen Ergebnisse abzeichnet. Dennoch sind die Erfolge der klassischen Zielpunkte gerade bei therapierefraktären Pa­tienten mitunter beeindruckend, sodass durch gezielte klinische Studien gerade in dieser eher selteneren Indikation weitere Evidenz geschaffen werden muss.

Eine der Volkskrankheiten, die schon jetzt den wahrscheinlich größten Einfluss auf frühzeitige Berufsunfähigkeit hat, ist die Major Depression. Auch hier ist eine erhebliche Anzahl von Pa­tienten als therapierefraktär einzuschätzen. Beeindruckend ist daher die gerade aus pathophysiologischen Überlegungen oft gut nachvollziehbare therapeutische Modulation pathologische Hirnaktivität durch die tiefe Hirnstimulation, z. B. in der Area CG25. Die Arbeitsgruppe um Thomas Schläpfer hat hier in den vergangenen Jahren grundlegende Arbeiten erbringen können und stellt in ihrem Beitrag die derzeitigen Ergebnisse und zukünftigen Optionen dar.

Eine der wenigen psychiatrischen Indikationen, bei denen bereits eine Indikationsstellung in Deutschland möglich ist, ist die Zwangserkrankung. In seinem Artikel versucht Lars Wojtecki hier einen Überblick über das sehr inhomogene Bild von klinischen Studien zu zeichnen. Deutlich wird hierbei, dass neben intensiver Grundlagenforschung auch weitere prospektive kontrollierte Studien notwendig sind, um eine ausreichende Aussage zu ermöglichen.

Zusammenfassend hat die tiefe Hirnstimulation in einigen ­Kernbereichen neurologischer Bewegungsstörungen den Schritt von der experimentellen Therapie in den klinischen Alltag geschafft. Spannend bleibt hier die weitere Erarbeitung der pathophysiologischen Konzepte, um auch in Zukunft weitere Optimierungen der Therapie und sinnvolle Erweiterungen der Indikationsstellung zu ermöglichen. Ferner wird deutlich, dass eine stringente klinische Forschung nicht nur in den Kernbereichen, sondern insbesondere in den noch experimentellen, nicht zugelassenen Indikationen unbedingt erforderlich ist, um hier Patientengruppen zu identifizieren, die von der tiefen Hirnstimulation in definierten Zielpunkten und definierten Stimula­tionsparametern profitieren können.

In diesem Sonderheft haben wir insbesondere jüngere Kollegen aus gut etablierten Arbeitsgruppen gebeten, die Evidenz zusammenzutragen und ihre Perspektive in den einzelnen Indikationen zu zeichnen. Wir freuen uns sehr, dass es gelungen ist, eine aus unserer Sicht ausgewogene Mischung von Artikeln zu ermöglichen ohne dass wir den Anspruch erheben wollen alle neuen Entwicklungen zu beschreiben. Wir freuen uns sehr, wenn dieses Heft einen kleinen Beitrag dazu leistet, die intensive klinische, aber auch grundlagenwissenschaftliche Forschung in Deutschland in diesem Bereich weiter voranzubringen.