Z Sex Forsch 2014; 27(2): 161-175
DOI: 10.1055/s-0034-1366590
Dokumentation
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sozialtherapie, was nun?[1]

Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gegen zwei nach Jugendstrafrecht Verurteilte
Axel Boetticher
a   Richter am Bundesgerichtshof a.D.
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Publication Date:
17 June 2014 (online)

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sich die moderne deutsche Kriminalwissenschaft und die Rechtspsychologie einig darüber, dass es den Typus des „unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechers“, wie er im Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933 erstmals gesetzlich festgeschrieben worden war, nicht mehr geben dürfe. Die ebenfalls erstmals eingeführte Sicherungsverwahrung sollte zurückgedrängt werden. 1980 wurde sie nur noch 41-mal verhängt. Die Zahl der Untergebrachten betrug nur noch 208, im Jahr 1996 waren es sogar nur noch 176 Sicherungsverwahrte (vgl. Statistisches Bundesamt 2013: 12).

Mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten vom 26. Januar 1998[2] und dem verheerenden Kanzlerwort „Wegsperren, und zwar für immer“ gab es jedoch in der deutschen Kriminalpolitik eine Trendwende. Die Zahl der untergebrachten Sicherungsverwahrten stieg von 176 im Jahr 1996 wieder auf 504 im Jahr 2011 (wegen zahlreicher Entlassungen infolge des richtungsweisenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR] vom 17. Dezember 2009 – Beschwerde-Nr. 19 359/04[3] – zum Stichtag 31.03.2013 „nur noch“ 491). Die Zahl der Untergebrachten in Maßregelvollzugseinrichtungen nach § 64 StGB stieg von 1.277 im Jahr 1996 auf 3.318 im Jahr 2011; die Zahl der nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten schließlich stieg von 2.956 im Jahr 1996 um mehr als 200 % auf 6.620 im Jahr 2011.[4]

Es ist anzuerkennen, dass die Anzahl der Sozialtherapeutischen Anstalten und Abteilungen des Justizvollzuges leicht angestiegen ist. Zum Stichtag 31. März 2012 gab es 63 Anstalten bzw. Abteilungen mit 2.351 Plätzen, die mit 2.057 Untergebrachten belegt waren. Von diesen hatten mehr als 50 % oder 1096 Männer Sexualstraftaten begangen. Von den am 31.03.2013 untergebrachten 491 Sicherungsverwahrten, die auch überwiegend wegen einer Gewalt- und Sexualstraftat untergebracht sind, werden gegenwärtig in der Sozialtherapie ganze 69 Männer behandelt und auf eine mögliche Entlassung vorbereitet. Eigentlich sollte mit der Schaffung solcher Spezialeinrichtungen bei der Justiz zudem die Einsicht vorhanden sein, dass zu einer wirksamen Therapie flächendeckend Lockerungen gewährt werden müssen und ambulante Nachsorge angeboten werden sollte. Die Stichtagserhebung der von Rudolf Egg geleiteten KrimZ hingegen zeigt, dass im Zuge der „Wegsperren, und zwar für immer“-Mentalität seit 2006 Lockerungen sogar eher versagt werden. Waren zwischen 1997 und 1999 47 % der Untergebrachten ohne Lockerungen, blieben es 2011 schon 75 % und 2012 sogar 80,7 %. Keine Staatsanwaltschaft, kein Justizministerium traut sich, Lockerungen zu geben. Wenn schon dieser privilegierte Kreis therapierter Täter ohne Lockerungen in die Freiheit entlassen wird, wie soll die Allgemeinheit denn vor denen geschützt werden, die weder Therapie noch Lockerungen erhalten und schlicht am Ende ihrer Strafen entlassen werden? Auch fehlt es an ambulanter Nachsorge: Nur bei 300 Untergebrachten gab es 2012 eine ambulante Nachsorge.[5] Traut die Politik wegen einiger Misserfolge – auf zwei Beispiele soll später eingegangen werden – der Sozialtherapie nicht?

1 Der Beitrag stellt sowohl die schriftliche Fassung des auf der Tagung der DGfS am 22.9.2013 in Hamburg gehaltenen Vortrages als auch die mit freundlicher Genehmigung der KrimZ überlassene, erheblich gekürzte Fassung des Aufsatzes in der Festschrift zu Ehren von Prof. Rudolf Egg zum 65. Geburtstag dar, die als Band 65 in der Reihe KUP – Kriminologie und Praxis – im Juni 2013 erschienen ist.