Z Sex Forsch 2014; 27(2): 176-196
DOI: 10.1055/s-0034-1366565
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Publication Date:
17 June 2014 (online)

Wenzel Bilger. Der postethnische Homosexuelle. Zur Identität „schwuler Deutschtürken“. Bielefeld: transcript 2012 (Reihe: Queer Studies, Bd. 5). 289 Seiten, EUR 29,80Zülfukar Çetin. Homophobie und Islamophobie. Intersektionale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare in Berlin. Bielefeld: transcript 2012 (Reihe: Queer Studies, Bd. 3). 421 Seiten, EUR 32,80

Noch zum Ende der Kohl-Regierung 1998 galt unter allen bis dahin amtierenden Regierungen die wirklichkeitsverleugnende Maxime, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Die Behandlung von Türkeistämmigen und von deren in der Bundesrepublik geborenen Kindern als „Ausländer“, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten würden, hat bis heute massive Auswirkungen auf die Lage von türkisch- und kurdischstämmigen Menschen in Deutschland, auch wenn sie durch Geburt oder Schul- und Hochschulbesuch bzw. Ausbildung längst zu Inländern geworden sind. Trotz aller zum Teil bis heute von den bundesdeutschen Regierungen und den deutschen Behörden aufrecht erhaltenen Integrationshemmnissen und weit verbreiteten xenophoben Einstellungen in der deutschen Gesellschaft gelang es einem bemerkenswert hohen Anteil von Menschen mit türkisch- und kurdischstämmigem Hintergrund, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Die Präsenz der türkischstämmigen Menschen und die Lebensumstände türkischstämmiger Schwuler wird von beiden Autoren zum Anlass ihres jeweiligen Forschungsprojekts genommen, das bei beiden im Rahmen einer Dissertation durchgeführt wurde. Die Themenstellungen der Dissertationen unterscheiden sich dagegen deutlich. Während Wenzel Bilger die Lebenssituation schwuler „Deutschtürken“ untersucht, fasst Zülfukar Çetin sein Forschungsthema wesentlich weiter. Anhand von Interviews mit schwulen Männern, die in bi-nationalen Partnerschaften leben, analysiert er die auf Islamophobie und Homophobie basierende Diskriminierung von Männern aus muslimischen Familien, die aus der Türkei nach Deutschland zu ihrem deutschen Partner gezogen oder in Deutschland aufgewachsen sind.

Der Bezug zu „queertheoretischen“ Diskussionen wird in der Arbeit von Bilger detailliert erläutert, während er bei Çetin häufiger zwischen den Zeilen mitschwingt. Bilger leitet seine empirische Analyse mit einer ausführlichen Würdigung und Kritik queertheoretischer Positionen ein. Er hebt hervor, dass nicht nur das Konzept sexueller Identität, sondern auch naturalisierende Diskurse zur Ethnizität von der „queer theory“ hinterfragt und dekonstruiert werden. Gleichzeitig problematisiert er die „Idealisierung des queeren Subjekts“: „Für die Sozialwissenschaft stellt sich das Problem, dass dieses queere Subjekt als akademische Fiktion wenig mit der empirischen Welt oder den Kräften zu tun hat, die sexuelle Praktiken und sexuelle Identität prägen“ (Bilger: 28). Damit benennt er ein eigenes Problem bei der Analyse seines biographischen Materials. Zu selten werde zwischen dem „abstrakten Konzept eines queeren Subjekts“ und den „empirischen schwulen oder lesbischen Individuen“ unterschieden, die zu einem bedeutsamen Anteil keinesfalls Geschlechtsrollen grundsätzlich in Frage stellen würden, wie es das Konzept „queer“ für sich beanspruche (ebd.: 29). Geht Bilger zufolge queere Theorie davon aus, dass das Streben des Individuums nach Identität immer schon zum Scheitern verurteilt sei, bleibt für ihn „Identität“ als Kategorie bei aller Berücksichtigung antiessentialistischer Kritik notwendig für die Untersuchung konkreter sozialer Zusammenhänge (ebd.: 30). Der Autor hat sechs biographische Interviews mit türkischstämmigen Schwulen in Deutschland für sein Dissertationsvorhaben durchgeführt, weitere Gespräche führte er mit jeweils einem Vertreter von zwei Berliner Projekten, dem Zentrum für Migranten, Lesben und Schwule des LSVD (MILES) und von Gays and Lesbians aus der Türkei (GLADT). Die Interviewpartner, mit denen er biographische Interviews gemacht hat, sind zum Zeitpunkt der Gespräche zwischen 21 und 38 Jahre alt.

Alle Interviewpartner sind in Deutschland geboren und mit einer Ausnahme auch ohne unterbrechende Türkei-Aufenthalte in Süddeutschland oder in Berlin aufgewachsen. Die Tatsache, dass sie türkischen Herkunftsfamilien entstammen, führt bei allen dazu, dass sie von ihrem deutschen Umfeld immer wieder in einem ethnisierenden „quasi-verwandtschaftlichen Kollektivierungsverfahren“ (ebd.: 60) einer in Deutschland lebenden türkisch-muslimischen Diaspora zugeordnet werden. Abwertende rassistische Aussagen von Mitschülern oder anderen Deutschstämmigen im sozialen Umfeld berichten alle Gesprächspartner. Bilger analysiert die vorgefundenen Ethnisierungspraktiken und -diskurse und arbeitet heraus, dass diese sich „keineswegs in ein Schema von aktiven Zuschreibern und passiven Zuschreibungsobjekten“ pressen lassen (ebd.: 81). In bestimmten Kontexten werden die mit der ethnischen Zuschreibung „Türke“ verbundenen Männlichkeitserwartungen von den Interviewpartnern aufgegriffen und zum eigenen Vorteil ausgenutzt. So berichtet Kaan: „Ich hab' immer so getan, als wär ich'n Kerl […] Machogetue und so und ähm, wie man halt als Türke sein muss“ (ebd.: 93). Wenn der „Stechertyp“ gefragt ist, wird der Rolle bisweilen bereitwillig entsprochen. Cemil merkt lakonisch an: „Also wenn ich dadurch einen Typen, den ich interessant finde, meinen Vorteil habe, dann spiel ich den auch vollkommen aus“ (ebd.: 104). Kaan, der zeitweilig in Berlin anschaffen ging, setzte seinen exotischen orientalischen Reiz bewusst bei der Freier-Anmache ein. Es ist eine der besonderen Stärken der Analyse von Bilger, dass er nie in einen Miserabilismus-Diskurs verfällt, sondern dass es ihm gelingt, die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit der im biographischen Material festzustellenden Selbst- und Fremdethnisierungsprozesse herauszuarbeiten.

In den meisten Erzählungen der Gesprächspartner stellt sich die Türkei als ein zurückgebliebener ruraler, gleichsam nicht zivilisierter Ort dar, dem implizit oder explizit die „fortgeschrittenere“ Gesellschaft der Bundesrepublik gegenübergestellt wird. Diesem Kontrast entsprechen die Gegensatzpaare großstädtisch-ländlich, tolerant-intolerant in den Narrativen, was jedoch auch zu einer Veränderung in der Perspektive führen kann. Die westlichen Großstädte der Türkei wie Istanbul und Izmir werden ebenfalls als Orte des Fortschritts und der Toleranz wahrgenommen. Die Dichotomie fortschrittlich-rückschrittlich wird dann verlagert in die türkischen Communities in Deutschland. „Eine diskursive Zweiteilung der Gemeinschaft der Migranten nehmen alle Gesprächspartner mehr oder weniger stark vor“ (ebd.: 173). Die Zweiteilung beruht auf dem erworbenen kulturellen und sozialen Kapital, das aus Bildungsabschlüssen und sozialen Netzwerken besteht. Ungebildet sein, „prolliges“ und machohaftes Auftreten wird mit der türkischen „Unterschicht“ (ebd.: 177) assoziiert, das „Vorhandensein von kulturellem Kapital gilt als Hindernis, so türkisch zu sein wie die richtigen Türken“ (ebd.: 175). Von fast allen Interviewpartnern werden die Normen der türkischen Herkunftskultur mit kritischer Distanz gesehen, so „als handele es sich um 'deren' Geschlechterordnung und nicht um die eigene“ (ebd.: 97).

Aus der Sicht der Interviewpartner darf die homosexuelle Orientierung oder die gleichgeschlechtliche Partnerschaft nicht im Kontext der Herkunftsfamilie oder dem der türkischen Community ihres Wohn- oder Herkunftsorts thematisiert werden. Dies führt bei einigen dazu, dass sie die deutsche Gesellschaft „zu einer Welt, in der heteronormative Tabus nicht existieren“ (ebd. 108) idealisieren. Für einige Interviewpartner bringt die deutsche Staatsbürgerschaft so viele Vorteile mit sich, dass sie diese angenommen haben. Als Deutsche fühlen sie sich deshalb nicht, wie Mesut kommentiert: „Ja, ich bin Deutscher auf’m Papier, aber ich fühle mich türkisch“ (ebd.: 163). Mesut fühlt sich auch weiterhin „türkisch“, weil er von Deutschstämmigen immer wieder wegen seines mediterranen Aussehens auf sein Türkischsein festgelegt wird. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob die für den Untertitel der Studie gewählte Bezeichnung „Deutschtürken“ glücklich gewählt ist.

Bilger arbeitet anschaulich die vorherrschende Ambivalenz bei seinen Gesprächspartnern heraus. Wie oft bei türkeistämmigen Menschen ist die Identifikation mit der Großstadt, in der sie leben, eher gegeben als mit Deutschland als größerer Einheit. Dies klingt deutlich an bei Deniz: „Ja, ich bin ein Münchner Kindl halt. Also ich bin jetzt halt kein scheues Reh […] ich bin ein Stadtmensch“ (ebd.: 138). Die Interviews enthalten viele selbstironische Schilderungen, die eine souveräne Beherrschung der Szene- und lokalen Umgangssprache dokumentieren.

Aufschlussreich sind die von Bilger analysierten Coming-out-Erzählungen, die sich in Vielem nicht von denen deutschstämmiger Schwuler unterscheiden. Die Thematisierung der eigenen Homosexualität erfolgt zunächst sehr selektiv gegenüber Personen in der Peer Group oder gegenüber Geschwistern, denen eine gewisse Toleranz unterstellt wird. Das Selbstoffenbaren gegenüber bedeutsamen Anderen wird unter anderem als „Beichte“ (ebd.: 194) bezeichnet, der Prozess des Outings erfolgt sehr vorsichtig, verbunden mit einer Reflexion über die jeweilige Familien- bzw. Geschwisterkonstellation. Cemil wohnt mit einem seine Homosexualität akzeptierenden Bruder zusammen und hebt hervor, dass sein anderer Bruder viel konservativer ist: „Deswegen sind ich und mein Bruder […] mit dem ich zusammen wohne, deswegen sind wir in seinen Augen keine Männer. Weil wir viel zu neu-modern sind“ (ebd.: 89). Der Topos der Moderne bzw. der Fortschrittlichkeit wird ebenfalls im Zusammenhang mit den Eltern thematisiert. Deniz erklärt, dass er seine Eltern „nicht mit der Schwulität quälen und […] sie damit nicht ärgern“ will (ebd.: 197), weil sie älter und anders aufgewachsen seien. Auch dieser Begründungszusammenhang erinnert an Coming-out-Berichte deutschstämmiger Schwuler. Gerade deshalb kann gefragt werden, ob die von Bilger konstatierte „Ethnisierung der Familie“ als traditional und die Kappung der Verbindung zu ihr wegen einer der ethnisierten Familie unterstellten Intoleranz Homosexuellen gegenüber (ebd.: 254) so zutrifft. Ist die Intoleranz wirklich nur „unterstellt“, oder ist sie vielleicht doch vorhanden? Die befragten Söhne mögen dies vielleicht besser beurteilen als der Interviewer. In den Berichten der Gesprächspartner wird zwar häufig „türkisch“, „konservativ“ und „traditionell“ in eins gesetzt. Dennoch sollten die Dimensionen des Traditionalismus und des Türkisch-Seins analytisch getrennt und dem Interviewpartner nicht gleich ein Ethnisierungsstrick daraus gedreht werden. In erster Linie ist die stringente, subtile und innovative Analyse positiv zu würdigen. Auf der letzten Seite seines Textes formuliert der Autor: „Die Koinzidenz des Vollzugs zweier unterschiedlicher Kollektivierungsperformative führt zu einer Überdeterminierung der Artikulation“ (ebd.: 272). Da kann der Rezensent allerdings nur ermattet seufzen und fragen, ob dieser queerperformative Jargon wirklich sein musste und ob er vielleicht der Übermüdung des Autors am Ende seines lesenswerten Textes geschuldet ist.

Zülfukar Çetin wählt für seine Studie einen ganz anderen Einstieg als Wenzel Bilger. Çetin beginnt mit einer ausführlichen Begriffsbestimmung der Kategorien Diskriminierung, Rassismus, Islamophobie und Homophobie. Die Begriffsklärungen sind informativ und definieren klar die Ausgangsposition des Autors. Der Exkurs „Islam und Homosexualität“ (Çetin: 79 f.) im Rahmen der Ausführungen zum Themenbereich Islamophobie wirft allerdings kritische Fragen auf. Çetin möchte begründen, dass fundamentalistische Koranauslegungen nicht herangezogen werden können, um „als Beweis für einen Widerspruch zwischen Islam und Homosexualität“ (ebd.: 84) herzuhalten. Um dies zu belegen, begibt er sich in die Interpretation bestimmter Suren des Korans, seine Gewährsmänner sind dabei „der mittlerweile bekannte Imam Muhsin Hendricks, der sich als schwuler Imam offenbart hat“ (ebd.: 80), und der Islamwissenschaftler Andreas Ismail Mohr. Mohr und Hendricks postulieren, dass jeder muslimische Mensch, unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung, dem Koran zufolge Liebe und Partnerschaft finden kann. „Dass heißt also, dass es auch für eine schwule oder lesbische Beziehung Platz im Islam geben kann“ (ebd.: 83). Letztere Auslegung des Korans mag für viele muslimische Schwule und Lesben in Europa zutreffen. Es erstaunt allerdings, dass Çetin, der in seiner Studie „intersektionale Diskriminierungen“ untersuchen will, sich so leichtfüßig über die theologische Lehrmeinung der überragenden religiösen Autorität des sunnitischen Islams, der Al Azhar Universität (Kairo), hinwegsetzt, wie er auch die Aussagen schiitischer Autoritäten im Iran und im Irak übergeht. Diese Lehrmeinungen, die keineswegs der Auslegung von Hendricks und Mohr entsprechen, sind für sunnitische und schiitische Muslime in Europa von ausschlaggebender Bedeutung. Anstatt sich auf den Hinweis zu beschränken, dass es praktizierende lesbische Muslima und schwule Muslime gibt, die ihren Glauben mit ihrer Homosexualität vereinbaren, unternimmt Çetin in seiner soziologischen Dissertation einen fragwürdigen Exkurs in die islamische Religionslehre, beruft sich dabei auf in den muslimischen Gemeinden in Deutschland keineswegs anerkannte Autoren und verkennt die Wirkungsmacht der religiösen Autoritäten der islamischen Welt in Europa. Dies ist umso bedauerlicher, als Çetin mit seinen Interviews reiches biographisches Material zusammengetragen hat.

Methodisch lehnt sich Çetin an das Konzept des biographisch-narrativen Interviews von Fritz Schütze an. Seine Interviewpartner leben in einer binationalen Partnerschaft in Berlin. Die Interviews erfolgten in Deutsch oder Türkisch. Für seine Dissertation konzentriert sich Çetin auf die Analyse von vier Interviews mit Gesprächspartnern mit muslimischem Familienhintergrund (drei von ihnen aus der Türkei) und auf Interviews mit zwei deutschstämmigen Gesprächspartnern, die mit zwei Männern aus der ersten Gruppe in einer Partnerschaft leben. Die drei türkischstämmigen Interviewpartner erreichten ihre Aufenthaltserlaubnis in Deutschland, indem sie eine eingetragene Lebenspartnerschaft mit ihrem deutschen Partner eingingen. Die Schwierigkeiten, auf die Staatsangehörige aus Nicht-EU-Mitgliedsländern dabei stoßen, sind selten so eindringlich beschrieben worden. Anhand der Interviews mit Arda und mit seinem deutschstämmigen Freund Kai zeigt Çetin einen schier unendlichen Hürdenlauf bis zur Verpartnerung auf. Die Schwierigkeiten, mit seinem deutschen Freund eine eingetragene Lebenspartnerschaft einzugehen, werden bemerkenswerterweise nicht von Arda, sondern von seinem Partner Kai in dessen Interview berichtet: Das türkische Konsulat in Berlin erklärt sich für die Ausstellung eines bei den deutschen Behörden notwendigen „Ehefähigkeitszeugnis“ nicht zuständig, da das Rechtsinstitut einer eingetragenen Partnerschaft in der Türkei nicht existiere. Das Paar reist in die Türkei, um die notwendigen Papiere zu beschaffen, schließlich verweigert die deutsche Botschaft ein Visum für Arda und es bedarf einer Intervention der Berliner Ausländerbehörde, um alle behördlichen Bescheinigungen zu erlangen. Das Engagement des Autors ist deutlich zu spüren, an diesem Fall exemplarisch herauszuarbeiten, wie deutsche Behörden – und hier noch im faktischen Einvernehmen mit den türkischen Stellen – verpartnerungswillige Staatsangehörige aus Nicht-EU-Ländern unter den Generalverdacht stellen, eine Partnerschaft (oder Ehe) mit einem/r Deutschen nur einzugehen, um in den Genuss deutscher Sozialleistungen zu kommen. Ähnlich leidvolle Erfahrungen mit den deutschen Behörden machen auch die beiden anderen türkischstämmigen Gesprächspartner, deren Interviews Çetin für seine Analyse heranzieht. Das Hin- und Hergeschobenwerden zwischen der Türkei und Deutschland führt bei allen drei türkischstämmigen Interviewpartnern zu einem Gefühl der Einsamkeit und der Heimatlosigkeit, das aus einer doppelten Entwurzelung herrührt. Die drei türkischen Interviewpartner bleiben als „Türken“ Fremde in Deutschland, auch wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben wie Arda, in der Türkei sind sie als schwule Männer Fremde im eigenen Land

Çetins Analyse gewinnt durch die ausführliche Berücksichtigung jener Interviewpassagen der türkischen Gesprächspartner, die sich auf ihre Kindheit und Jugend in der Türkei beziehen. Sie machten dort als „prähomosexuelle“ Kinder und Jugendliche ganz unterschiedliche Erfahrungen. Ardas Vater ist Schneider und zeigt eine für Väter ungewöhnliche Toleranz gegenüber seinem effiminierten Sohn. Da dieser als Kind gerne tanzt, schneidert er ihm einen Tanzrock. Er duldet auch die Kontakte seines Sohnes mit einem Transvestiten im heimischen Wohnviertel, der Arda in seiner Jugend besonders faszinierte. Die beiden anderen türkischen Interviewpartner stoßen als früh von dominierenden Männlichkeitsnormen abweichende Jungen auf weniger Toleranz; ihre Erzählungen sind jedoch ebenfalls aufschlussreich in Hinblick auf die Nischen, die sie als junge homosexuelle Männer für sich fanden. Als existentielle Erfahrung beschreibt Ali sowohl für sein früheres Leben in der Türkei wie auch für sein gegenwärtiges Leben in Deutschland die „Last“ seiner Existenz: „Ich habe mich immer einsam gefühlt“ (ebd.: 184). Auch Ali geht davon aus, dass er in Deutschland nicht heimisch werden wird. Er findet die Menschen in Deutschland „langweilig und kalt […]. Es gibt niemanden, der über Gefühle oder über sich spricht“ (ebd.: 212 f.). An türkischstämmigen Menschen in Deutschland kritisiert er, dass diese sich den Deutschen angepasst hätten und genauso wie diese denken würden.

Çetin arbeitet anhand vieler Beispiele aus den Berichten seiner Interviewpartner heraus, in welchem großen Ausmaß schwule Männer mit (türkischem) Migrationshintergrund in Deutschland von einer Kombination rassistischer, xenophober und schwulenfeindlicher Einstellungen und Verhaltensweisen betroffen sind. In seinem Bemühen nachzuweisen, dass nicht nur in islamischen Ländern, sondern auch in Deutschland schwulenfeindliche Einstellungen vorhanden sind, gelangt er allerdings zuweilen zu merkwürdigen Konstruktionen. Besonders augenscheinlich wird dies in der Fallbeschreibung von Hamid. Hamids Vater ist ein konservativer pakistanischer Muslim, er beharrt auf einer strengen muslimischen Erziehung seines Sohnes und bedroht ihn physisch, als dieser ihm von seiner Homosexualität berichtet. Hamid flüchtet zu seinem deutschen Partner, lebt lange Zeit in Angst vor Gewaltattacken seines Vaters und ist so traumatisiert, dass er sich in psychotherapeutische Behandlung begeben muss. Çetin beharrt darauf, dass Hamid das Verhalten seines Vaters zu Unrecht auf dessen Strenggläubigkeit beziehe. Der Vater sei zwar Moslem, seine aggressiven Handlungen seien aber nicht auf seine religiöse Einstellung zurückzuführen, sondern auf dessen Alkoholismus und Spielsucht (ebd.: 369). Er stellt schließlich fest: „Hamid führt die homophobe Haltung seines Vaters auf dessen religiöse Einstellung zurück, wobei andere Beispiele nicht diese Behauptung Hamids unterstützen, so etwa auch die katholische Mutter Cans, die Homosexualität nicht anerkennt“ (ebd.: 378). Hier (und nicht nur hier) zeigt sich eine problematische Verzerrung in der Analyse des Autors. In seinem Bemühen, die in Europa „dem Islam“ pauschal unterstellte „Homophobie“ zu entkräften, betont er immer wieder die auch in der „deutschen Mehrheitsgesellschaft“ vorhandene „Homophobie“, um sie im Kontext muslimischer Migrantenfamilien zu minimieren. Die Schwulenfeindlichkeit der katholischen bayerischen Mutter eines Interviewpartners wird als Argument gegen die unterstellte „Homophobie“ eines pakistanischen Vaters benutzt, obwohl beide sich überhaupt nicht ausschließen. Çetin schöpft zudem nicht den Reichtum seines biographischen Materials aus, wenn er häufig in sehr pauschalisierender Weise den Begriff „Homophobie“ benutzt. Die schwulenfeindliche Einstellung einer katholischen bayerischen Mutter gleichzusetzen mit der Androhung der Vernichtung der physischen Existenz durch einen pakistanischen Vater offenbart einen Mangel an kontextualisierender Analyse, der sich leider auch in anderen Passagen seiner Publikation feststellen lässt. Sie büßt damit an analytischer Schärfe ein.

Unbefriedigend ist ebenfalls, und hier sei Bilgers Dissertation mit einbezogen, der pauschalisierende Gebrauch des Terminus „Mehrheitsgesellschaft“. Es ist nicht nachvollziehbar, warum von Autoren, die programmatisch die Notwendigkeit der „Dekonstruktion“ traditioneller Konzepte und Begriffe proklamieren, dieser Begriff so häufig als Allzweck-Kategorie eingesetzt wird. Dieses Verfahren abstrahiert davon, dass sich die deutsche „Mehrheitsgesellschaft“ aus sehr unterschiedlichen sozialen Milieus mit stark voneinander abweichenden normativen Orientierungen zusammensetzt, ähnlich wie auch die türkische Gesellschaft in der Türkei. Im Kontrast zur postulierten „intersektionalen“ Analyse verschleiert der inflationäre Gebrauch des Begriffs „Mehrheitsgesellschaft“ die Struktur und die Funktionsweisen einer weltanschaulich nach wie vor wenig homogenen Klassengesellschaft mit gegenwärtig zunehmenden Ungleichheiten an kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital. Beide Autoren unterstellen in ihrer Verwendung des Begriffs Mehrheitsgesellschaft, mit dem ursprünglich eine sehr begründete Kritik an Rassismus und an essentialisierenden Ethnisierungsdiskursen verbunden ist, eine kulturelle und sozioökonomische Homogenität, die so nicht besteht.

Bei allen größeren und kleineren Einwänden bleibt festzuhalten, dass beide Publikationen wichtige Beiträge zu Themen leisten, deren Bearbeitung in den deutschen Sozialwissenschaften erst begonnen hat.

Michael Bochow (Berlin)