physioscience 2014; 10(2): 45-46
DOI: 10.1055/s-0034-1366487
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Glaube ist entscheidend – wie tragen wir dazu bei?

B. Tampin
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Publication Date:
03 June 2014 (online)

Die Bedeutung des biopsychosozialen Modells als Leitfaden für die Behandlung von Schmerzpatienten ist nicht mehr umstritten. Zunehmende Evidenz zeigt, dass chronische Schmerzen mit einer komplexen Kombination verschiedener Faktoren assoziiert sind: physische, neurophysiologische, kognitive, psychologische, soziale und genetische Faktoren sowie der Lebensstil der betroffenen Personen. Die Evidenz zur „besten Praxis“ weist nach, dass bessere klinische Ergebnisse am wahrscheinlichsten durch Strategien erreicht werden, die auch die psychologischen Aspekte der Schmerzen berücksichtigen.

Anerkannte psychologische Risikofaktoren sind unter anderem die Neigung zum Katastrophisieren, übersteigerte Aufmerksamkeit (Hypervigilanz), maladaptive Aktivitätsvermeidung (Fear avoidance) und das Festhalten an negativen Überzeugungen in Bezug auf die Selbstwirksamkeit [4]. Schmerz-Katastrophisieren und Fear avoidance sind die größten Prädiktoren für die Entwicklung persistierender lumbaler Rückenschmerzen.

Beide Faktoren basieren oft auf falschen und – wenn länger andauernd – dysfunktionalen Überzeugungen der Patienten in Bezug auf die „Ursache(n)“ ihrer Schmerzen, ihre Prognose und optimale Behandlung.

Wie kommt es zu dysfunktionalen Überzeugungen, was trägt dazu bei? Hier kommen 3 Bereiche der Interaktion im Gesundheitswesen zum Tragen: (1) die Überzeugung/der Glaube der Patienten, (2) die Überzeugung der Kliniker/Therapeuten und (3) die Überzeugung der Gesellschaft. Es ist bekannt, dass z. B. der Glaube der Therapeuten die Behandlungswahl erheblich beeinflusst [4]. So sagen z. B. Therapeuten, die selbst hohe Fear-avoidance-Tendenzen aufweisen, ihren Patienten eher, dass sie sich wegen ihrer Rückenschmerzen krankschreiben lassen und inaktiv sein sollen. Dies entspricht jedoch nicht den evidenzbasierten Richtlinien.

Wenn Therapeuten negative Überzeugungen haben, können sich diese direkt auf die Patienten übertragen oder deren negative Überzeugung noch verstärken. Haben Therapeuten jedoch positive Überzeugungen/Ausstrahlung, können diese auch positiv auf die Patienten wirken.

Der Glaube der Gesellschaft in Bezug auf den Gesundheitsbereich ist leider meist an das biomedizinische Modell geknüpft und erklärt nicht ausreichend Schmerzwahrnehmung und Behinderung. Der Glaube der Patienten, der letztendlich auch von Punkt (1) und (2) geprägt wird, ist sicherlich der größte hemmende Faktor in der Rehabilitation.

In meiner Arbeit als „Advanced Scope Physiotherapist“ in einer neurochirurgischen Triage-Klinik in Perth bin ich tagtäglich mit den Glaubensvorstellungen der Patienten konfrontiert. Patienten werden mit der Fragestellung überwiesen, ob eine Operation an der Wirbelsäule für ihre Schmerzzustände indiziert ist. Meine Aufgabe besteht unter anderem darin, die Patienten über ihre Schmerzursachen und Prognose aufzuklären und über ihr weiteres Management zu entscheiden. Ich bin immer wieder erschüttert, mit welchen Überzeugungen und daraus resultierenden Ängsten Patienten zu uns kommen, aber auch zu erkennen, wie viel wir als Health Professionals möglicherweise zu diesen falschen Überzeugungen beitragen.

Viele Patienten werden aufgrund ihrer Computer- oder Magnetresonanztomografiebefunde der Wirbelsäule überwiesen. Ihr Hausarzt hatte ihnen mitgeteilt, ihre Wirbelsäule sei degeneriert und sähe schlimm aus, sodass eine Operation unvermeidlich sei. Der Chiropraktiker suggerierte, die Bandscheibe rutsche rein und raus, und der Physiotherapeut erklärte, die Wirbelsäule sei instabil (obwohl keine wirkliche Instabilität besteht) und der Patient müsse intensive „Core stability excercises“ ausführen. Bei so vielen zwiespältigen Informationen ist es kein Wunder, wenn die Patienten nicht mehr weiter wissen, die Hoffnung verlieren und ein Fear-avoidance-Verhalten entwickeln.

In der vorliegenden Ausgabe finden sich unter der Rubrik „gelesen und kommentiert“ einige Studien, die veranschaulichen,

  • welche Vorstellungen Patienten bei gewissen Nomenklaturen haben [1] [3]. So verstehen Patienten z. B. den Begriff „chronisch“ als „Die Lage ist schlimm; der Schmerz ist unheilbar; nur 2 Schritte vom Rollstuhl entfernt” [1];

  • wie Missverständnisse zwischen Patienten und Therapeuten entstehen können [1];

  • wie wichtig Aufklärung ist [2];

  • dass es möglich ist, Überzeugungen zu beeinflussen und zu ändern [2].

Ich bitte die Leser innständig, sich diese Zusammenfassungen genau anzuschauen. Sie sind ein „Eye opener“.

Meine „Take home message” für die Leser ist, dass sich Physiotherapeuten in der besten Position befinden, die Glaubensvorstellungen ihrer Patienten zu untersuchen und entsprechend zu beeinflussen [4]. Dies sollte fester Bestandteil sowohl der Verantwortung der Physiotherapeuten gegenüber ihren Patienten als auch der klinischen Praxis sein.

 
  • Literatur

  • 1 Barker KL, Reid M, Lower CJM. Divided by a lack of common language? – A qualitative study exploring the use of language by health professionals treating back pain. BMC Musculoskelet Disord 2009; 10: 123
  • 2 McCullough BJ, Johnson GR, Martin BI et al. Lumbar MR imaging and reporting epidemiology: Do epidemiologic data in reports affect clinical management?. Radiology 2012; 262: 941-946
  • 3 Sloan TJ, Walsh DA. Explanatory and diagnostic labels and perceived prognosis in chronic low back pain. Spine 2010; 35: E1120-E1125
  • 4 Zusman M. Das biopsychosoziale Modell als Leitfaden für die Behandlung von muskuloskeletalen Schmerzen und Behinderungen durch bewegungsbasierte Therapie. physioscience 2010; 6: 112-120