Zahnmedizin up2date 2015; 9(1): 55-76
DOI: 10.1055/s-0033-1358072
Oralmedizin
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Defektprothetische und epithetische Versorgung von Patienten mit Kiefer-/Gesichtsdefekten

Elmar Ludwig
Further Information

Publication History

Publication Date:
23 January 2015 (online)

Einleitung

Im Jahr 2008 erkrankten knapp 470 000 Menschen in Deutschland an bösartigen Neubildungen. Im Bereich von Mundhöhle, Rachen, Schilddrüse und Kehlkopf lag der Anteil gemeinsam betrachtet für Männer bei rund 5,5 % und bei Frauen bei ca. 3,4 % (Abb. [1] und [2]).

Zoom Image
Abb. 1 Patientenbeispiel für eine weit fortgeschrittene intraorale bösartige Neubildung.
Zoom Image
Abb. 2 Krebsarten nach Geschlecht und Häufigkeit. Quelle: RKI, Zentrum für Krebsregisterarten, Stand 17. 02. 2012 [1].

Im Jahr 2012 erkrankten ca. 20 000 Menschen im Kopf-Hals-Bereich an einer bösartigen Neubildung (Lymphommanifestationen im Kopf-Hals-Bereich nicht eingerechnet) [1]. Dass sich die 5-Jahres-Überlebensraten von Patienten mit bösartigen Neubildungen – im Bereich von Mundhöhle und Rachen zwischen 40 und 60 % – in den vergangenen Jahrzehnten nicht wesentlich verbessert haben, liegt teilweise darin begründet, dass ein erheblicher Anteil der betroffenen Patienten nur eingeschränkt an medizinischen Präventionsprogrammen teilnimmt. So haben in Abhängigkeit vom Geschlecht der Patienten und der Lokalisation des Tumors zwischen 20 und 50 % der in dieser Arbeit vorgestellten Tumorpatienten keinen Hauszahnarzt. Mangelnde Beachtung der veränderten intra- und/oder extraoralen Defektsituation sowie individuelle Verdrängung führen zu einer Therapieverzögerung, wobei sich schon nach 4 Wochen die Überlebensrate signifikant verschlechtert [2].

Die Therapiemethoden sind im Kopf-Hals-Bereich zudem nicht beliebig radikal ausführbar. Kombinationen der Therapiesäulen Resektion, Bestrahlung und Chemotherapie verbessern zwar die Überlebensraten, verstärken aber auch die Nebenwirkungen wie z. B. Mukositis, Lymphstau, Trismus, radiogen bedingte Schädigungen der Zahnhartsubstanzen, Osteoradionekrose oder auch Veränderungen im Blutbild. Diese wirken teilweise lange nach oder werden erst mit Verzögerung beobachtet und erfordern eine qualifizierte und intensive Betreuung. Patienten, die vor ihrer Tumorerkrankung eine geringe ärztliche Bindung aufwiesen, können durch eine persönliche enge Bindung im Rahmen der Primärtherapie zu einer konsequenten Wahrnehmung regelmäßiger Nachsorgemaßnahmen motiviert werden. Zahnärztliche Betreuungskonzepte im Rahmen von Radiatio und/oder Chemotherapie dürfen sich nicht allein auf die Fokussuche und die Anfertigung von Fluoridierungsschienen beschränken. Von Anfang an ist auch auf ein prothetisches Gesamtkonzept für den zu erwartenden Restzahnbestand zu achten. Dies ist natürlich den z. B. resektiven Maßnahmen nachzuordnen, weil die Beseitigung des Tumors in der Gesamtbetreuung an erster Stelle stehen muss.

Es ist sinnvoll und notwendig, dass derartige Patienten im Rahmen der Gesamtbehandlung – unabhängig von Bestrahlung und Chemotherapie – von einem besonders spezialisierten Zahnarzt betreut werden. Dieser muss vor, während und auch nach Abschluss der Primärbehandlung als kompetenter Betreuer zur Verfügung stehen [3], [4].

Die beispielsweise bei einer Strahlentherapie erforderlichen zahnärztlichen Maßnahmen sind in Tab. [1]–[3] zusammengestellt.

Tabelle 1 Therapieübersicht vor Beginn der Strahlentherapie [5].

Befund

Maßnahme

STR: Strahlentherapeut, ZA: Zahnarzt, ZMK: Mund-Kiefer-Gesichtschirurg

Formblätter

  • STR: Bestrahlungsprotokoll, Strahlenfelder, Bestrahlungsbeginn

  • ZA/ZMK: Therapiekonzept

Aufklärung, Motivation zur Mundhygiene (Merkblätter)

metallische Restaurationen erhaltbar

Schleimhautretraktoren anfertigen (Anforderung STR)

  • Patient zahnlos (Röntgenaufnahme!)

  • keine Granulome, Zysten, Kiefererkrankungen

  • keine Schleimhauterkrankungen

  • keine zahnärztliche Therapie

  • Beginn der Strahlentherapie

  • nicht erhaltungswürdige Zähne, Wurzelreste, retinierte Zähne

  • Parodontitis apicalis, Zysten

  • Parodontitis marginalis, Zahnlockerung, parodontaler Abbau (Röntgenaufnahme)

  • profunde Karies

  • chirurgische Therapie

  • rasche, ungestörte Wundheilung anstreben (plastischer Wundverschluss, ggf. prophylaktische Antibiotikagabe)

  • Zahnextraktionen, Zystenoperationen etc.

  • nur in Einzelfällen endodontische Therapie

  • Mundhygiene-Intensivierung, Fluoridierung

  • Caries media, superficialis

  • qualitativ schlechte Restaurationen

  • röntgenologisch gesundes/altersentsprechendes Parodont

  • Füllungstherapie

Tabelle 2 Therapieübersicht während der Strahlentherapie [5].

Maßnahme

Mukositisprophylaxe, -therapie:

  • Vermeidung sekundärer Noxen (Alkohol, Nikotin, heiße/scharfe/saure Speisen und Getränke)

  • Prothesenkarenz

  • Mundhygiene, -spülungen

Schmerztherapie

bei Indikation Antibiotika, Antimykotika

Fluoridierung (Zahnschiene)

Prothesenkarenz

Tabelle 3 Therapieübersicht nach Abschluss der Strahlentherapie [5].

Befund

Maßnahme

  • regelmäßige professionelle Mundhygiene

  • Motivation des Patienten zur Mundhygiene

regelmäßige zahnärztliche Kontrolle

Zahnextraktion/operativer Eingriff nötig

  • knochengängiges Antibiotikum (3 Tage vor bis 10 Tage nach dem Eingriff)

  • plastischer Wundverschluss

  • täglich professionelle antiseptische Wundbehandlung bis zur Heilung

Neben der zahnärztlich fachlichen Herausforderung bedürfen diese Patienten einer besonders einfühlsamen Patientenführung. Dazu sind ausgeprägte kommunikative und psychologische Kompetenzen des betreuenden spezialisierten Zahnarztes von herausragender Bedeutung.

Umfangreiche Hinweise für die Kommunikation finden sich in der Literatur. In der zahnärztlichen Praxis sind korrekte kommunikative Beziehungen zu den Patienten grundsätzlich sehr wichtig [6]–[8]. Die Betreuung von Tumorpatienten muss mit größter Zuwendung aller Praxismitarbeiter erfolgen. Tumorpatienten erlebten bereits eine belastende Therapie, durchlebten lebensbedrohende Situationen und haben erhebliche Funktionseinschränkungen sowie eine oft stark reduzierte Lebensqualität. Sie sind sehr sensibilisiert. Die Gesprächs- und gesamte Patientenführung ist ein überaus wichtiger Teil der Betreuung dieser schwer betroffenen Patientengruppe.

Anfang des Jahres 2014 erschien eine Leitlinie zur psychologischen Unterstützung für Tumorpatienten. Das kann immer nur eine Orientierung sein. Entscheidend ist und bleibt der individuelle, einfühlsame, freundliche Umgang mit diesen schwer gezeichneten Patienten [9].

Merke: Patienten sind im Rahmen der Tumortherapie (Resektion/Radiatio/Chemotherapie) von besonders spezialisierten, kompetenten Zahnärzten begleitend zu betreuen.

 
  • Literatur

  • 1 (Hrsg.) Robert Koch-Institut. Verbreitung von Krebserkrankungen in Deutschland. Entwicklung der Prävalenzen zwischen 1990 und 2010. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin: RKI; 2010
  • 2 Kowalski LP, Carvalho AL. Influence of time delay and clinical upstaging in the prognosis of head and neck cancer. Oral Oncol 2001; 37: 94-98
  • 3 Gente M, Lehmann KM. Parodontal- und Kariesprophylaxe bei Patienten mit offenen Oberkieferdefekten nach Tumoroperation. Dtsch Zahnärztl Z 1990; 45: 582-584
  • 4 Eberle JC, Grötz KA. Zahnärztliche Betreuung von Tumorpatienten. Zahnmedizin up2date 2013; 7: 357-378
  • 5 Dörr W, Herrmann T, Reitemeier B et al. Folgen der Strahlentherapie in der Mundhöhle. Zahnmedizin up2date 2008; 2: 543-569
  • 6 Köllner V, Rinke K, Weidner K et al. Kommunikation in der Zahnarztpraxis. Zahnmedizin up2date 2010; 4: 43-66
  • 7 Telfer M, Shepherd J. Psychological distress in patients attending an oncology clinic after definitive treatment for maxillofacial malignant neoplasia. Int J Oral Maxillofac Surg 1993; 22: 347-349
  • 8 Al-Khazraji J, Schröder M. Psychosozialer Belastungsstatus und psychologischer Interventionsbedarf bei Patienten mit prothetischen und epithetischen Versorgungen. Orthopädie-Technik 2002; 53: 37-45
  • 9 Weis J. Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten. S3-Leitlinie der AWMF. Registernummer 032/051OL; 2014.
  • 10 Lehmann KM, Gente M, Wenz HJ. Abformung offener Oberkieferdefekte. In: Reitemeier G, Penkner K, Hrsg. Fortschritte in der chirurgischen Prothetik und Epithetik. (Kongressband) Bd. VIII. Graz: Eigenverlag; 1997: 128-135
  • 11 Linsen S, Schmidt-Beer U, Koeck B. Welche Kriterien bestimmen die Auswahl des Abformmaterials bei Defekten im Mund-, Kiefer-, Gesichtsbereich?. ZWR 2002; 111: 174-178
  • 12 Gente M, Wenz HJ. Prothetische und epithetische Behandlung des bestrahlten Patienten. In: Kielbassa AM, Hrsg. Strahlentherapie im Kopf- und Halsbereich. Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft; 2004: 101-116
  • 13 Meriske-Stern R, Meriske E, Berthold H et al. Resektionsprothetik. Schweiz Monatsschr Zahnmed 1994; 104: 59-68
  • 14 Moroi HH, Okomoto K, Terada Y. The effect of an oral prosthesis on the quality of life for head and neck cancer patients. J Oral Rehabil 1999; 26: 265-273
  • 15 Müller R, Höhlein A, Wolf A et al. Evaluation of selected speech parameters after prosthesis supply in patients with maxillary or mandibular defects. Onkologie 2013; 36: 547-552
  • 16 Müller R, Runte C. Stimme und Sprache aus phoniatrischer und zahnärztlicher Sicht. Zahnmedizin up2date 2010; 4: 191-209
  • 17 Pöhner WM. Verordnung von Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie durch Zahnärzte in der GKV. Quintessenz 2001; 52: 1071-1072
  • 18 Reitemeier B, Unger M, Ender B. Essen und Trinken für chirurgisch-prothetische Patienten. Im Internet: http://www.uniklinikum-dresden.de/das-klinikum/kliniken-polikliniken-institute/zap/downloads/Ernaehrungsrichtlinie_de.pdf Stand: 07.11.2014
  • 19 Wöstmann B, Rasche KR. Einfluss einer Radiotherapie auf die Überlebenszeit von Zähnen und Zahnersatz. Studie über die Patienten mit Kiefer-Gesichts-Defekten. Zahnärztl Welt 1995; 104: 627-633
  • 20 Lehmann KM, Gente M, Wenz HJ. Die Anwendung von Doppelkronen bei der prothetischen Versorgung von Kieferdefekten nach Tumoroperation. In: Penkner K, Schneehuber W, Hrsg. Fortschritte in der chirurgischen Prothetik und Epithetik (Kongressband). Bd VI. Graz: Eigenverlag; 1994: 49-54
  • 21 Rehmann P, Schierz S, Wöstmann B. Teleskopverankerte Obturatorversorgung von Patienten mit Maxillateilresektion und Restbezahnung. Dtsch Zahnärztl Z 2012; 67: 477-482
  • 22 Wenz HJ, Hertrampf K, Gente M et al. Langzeitverweildauer von Doppelkronen mit Spielpassung. Dtsch Zahnärztl Z 1999; 54: 655-657
  • 23 Weinbach C, Lauer H-C. Doppelkronenversorgung – noch up2date?. Zahnmedizin up2date 2012; 6: 323-342
  • 24 Müller F, Schädler M, Wahlmann U et al. The use of implant-supported prostheses in the functional and psychosocial rehabilitation of tumor patients. Int J Prosthodont 2004; 17: 512-517
  • 25 Reitemeier B, Unger M, Richter G et al. Clinical test of masticatory efficacy in patients with maxillary/mandibular defects due to tumors. Onkologie 2012; 35: 170-174
  • 26 Buurman DJM, Vaasen LA, Böckmann R et al. Prosthetic rehabilitation of head and neck cancer patients focusing on mandibular dentures in irradiated patients. Int J Prosthodont 2013; 26: 557-562
  • 27 Ferraigh P. Review of methods used in the reconstruction and rehabilitation of the maxillofacial region. J Ir Dent Assoc 2010; 56: 32-37
  • 28 Grötz KA, Wagner W. Implantat-Versorgung zur oralen Rehabilitation im Zusammenhang mit Kopf-Hals-Bestrahlung. S3-Leitlinie der AWMF. Düsseldorf: Eigenverlag; 2007
  • 29 Marx RE, Morales MJ. The use of implants in the reconstruction of oral cancer patients. Dental Implants 1998; 42: 177-202
  • 30 Driemel O. Erkennung oraler Risikoläsionen in der zahnärztlichen Praxis. In: Deutsche Krebshilfe, Hrsg. Ein Ratgeber für Zahnärzte. Bonn: Eigenverlag; 2008
  • 31 Bengel W, Veltmann G. Differenzialdiagnostik der Mundschleimhauterkrankungen. Berlin: Quintessenz; 1986
  • 32 Bengel W. Mundschleimhautberatung der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Der Freie Zahnarzt 2012; 56: 70-80
  • 33 Kunkel M, Hertrampf K. Diagnostik und Management von Vorläuferläsionen des oralen Plattenepithelkarzinoms in der Zahn-, Mund – und Kieferheilkunde. S2k-Leitlinie der DGZMK. Berlin: Eigenverlag; 2010
  • 34 Remmerbach TW. Bürstenbiopsie: Tumorfrüherkennung in der Zahnarztpraxis. Zahnmedizin up2date 2008; 2: 431-447
  • 35 Kielbassa AM Hrsg. Strahlentherapie im Kopf-Hals-Bereich. Implikationen für Zahnärzte, HNO-Ärzte und Radiotherapeuten. Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft; 2004