Zahnmedizin up2date 2014; 8(4): 339-358
DOI: 10.1055/s-0033-1357933
Oralmedizin
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Normvarianten und Veränderungen der Zungenoberseite

Andreas Filippi
,
Irène Hitz Lindenmüller
,
Branka Tomljenovic
Further Information

Publication History

Publication Date:
30 July 2014 (online)

Einleitung

Die Zunge des Menschen ist ein länglicher, von Schleimhaut überzogener Muskelkörper, der zahlreiche Blutgefäße enthält, im Ruhezustand auf dem Boden der Mundhöhle liegt und diese in Okklusion fast ganz ausfüllt (Abb. [1]) [1], [2]. Die Zungenspitze kann fast jeden Punkt der Mundschleimhaut erreichen [1]. Die Zunge hat zahlreiche essenzielle Aufgaben: eine eingeschränkte oder fehlende Zungenfunktion kompromittiert die Sprachbildung (Abb. [2]), den intraoralen Tastsinn, die Verteilung und das Zerdrücken des Speisebreis, das Schlucken, die Temperaturempfindung sowie das Schmecken.

Zoom Image
Abb. 1 Normale Zunge eines Erwachsenen.
Zoom Image
Abb. 2 Der für die kindliche Sprachentwicklung erforderliche Zungen-Frontzahn-Kontakt.

Auf der Zungenoberfläche befinden sich zahlreiche Papillen, die in mechanische (Tastsinn) und Geschmackspapillen unterschieden werden [2]. Die wichtigsten mechanischen Papillen des Menschen sind die Papillae filiformes (fadenförmige), die der Zunge ihre samtartige Oberfläche verleihen. Die drei Arten von Geschmackspapillen, die Geschmacksknospen tragen können, sind die Papillae fungiformes (pilzförmige), die Papillae vallatae (wallartige) und die Papillae foliatae (blattartige). Diese vergrößern die Zungenoberfläche erheblich [3]. Offenbar kann jede Geschmacksknospe alle Geschmacksrichtungen wahrnehmen; allerdings sind die Maxima der Geschmackswahrnehmung auf bestimmte Regionen konzentriert, die sich überlappen können [1]. Die unterscheidbaren Geschmackswahrnehmungen sind süß, sauer, salzig, bitter, fleischig (umami, aus dem Japanischen für fleischig, herzhaft, wohlschmeckend bei proteinreichen Nahrungsmitteln), Fett und Wasser [1].

Die Zunge ist das größte Organ in der Mundhöhle des Menschen und somit auch das größte Reservoir für orale Mikroorganismen. Die Bakterien sind auf der Zungenoberfläche in einen komplexen Biofilm eingebettet, der sie vor mechanischen, thermischen und chemischen Einflüssen schützt. Insbesondere die tiefen und adhärenten Schichten dieses Biofilms sind ein hervorragender Lebensraum für gramnegative anaerobe Mikroorganismen. Die Versorgung mit Nährstoffen erfolgt auch exogen über Bestandteile der Nahrung, des Speichels oder den postnasalen Sekretabfluss. Die Hauptnahrungsquelle der Mikroorganismen sind jedoch Aminosäuren aus den abgeschilferten Epithelresten des verhornten Plattenepithels unter dem Biofilm, die nach jedem Zellteilungszyklus in der Basalmembran neu zur Verfügung stehen. Das bedeutet, dass der Biofilm von außen durch Reduktion oder Veränderung der Ernährung nur unzureichend beeinflusst werden kann. Auch chemische Substanzen in Mundspüllösungen, Lutschpastillen oder Kaugummis dringen nicht in genügendem Ausmaß in den Biofilm ein. Die einzige suffiziente Maßnahme ist – analog zur Biofilmentfernung auf den Zähnen – die mechanische Zungenreinigung, die grundsätzlich nicht mit Schabern, sondern ausschließlich mit Zungenbürsten oder flachen Kinderzahnbürsten erfolgen sollte [4]. Sie schützen nicht nur das empfindliche Epithel, sondern sind außerdem in der Lage, antimikrobielle Wirkstoffe in Form von Zungenpasten zu applizieren. Sie unterscheiden sich grundsätzlich von Zahnpasten; heute sind im deutschsprachigen Raum mehr als 20 Präparate kommerziell erhältlich.

Jeder Zahnarzt behandelt täglich die Folgen von Infektionen in der Mundhöhle (Karies, Parodontitis marginalis). Die meisten der verursachenden Bakterien sitzen nicht etwa in den parodontalen Taschen oder in der kariösen Läsion, sondern auf der Zungenoberfläche. Von daher überrascht es, dass sich die Schulzahnmedizin bisher nie ernsthaft und konsequent mit dem größten Camp für Mikroorganismen in der Mundhöhle beschäftigt hat. Kariesprophylaxe, parodontale und periimplantäre Therapien werden in Zukunft immer mehr auch auf der Zunge stattfinden, insbesondere bei Risikopatienten und bei Therapieresistenzen, Rezidiven oder Misserfolgen.

Der Biofilm auf der Zunge ist auch die Hauptursache für Mundgeruch [4]. Die Stoffwechsel-Endprodukte der gramnegativen Anaerobier gelangen via Konversion und Volatilisation (Verflüchtigung) durch den Biofilm hindurch in die Atemluft und werden auf diese Weise als Mundgeruch wahrgenommen. Eine professionelle Diagnostik in diesem Bereich benötigt eine sowohl quantitative als auch qualitative Analyse des Biofilms bzw. Zungenbelags [4]. Im Rahmen der quantitativen Analyse wird ein Zungenbelag-Index erhoben; mehrere Varianten sind wissenschaftlich publiziert worden [4]. Bei der qualitativen Erhebung wird die Hauptfarbe des Zungenbelags festgehalten, die mit der Intensität des Mundgeruchs assoziiert ist [4]. Eine mikrobiologische Analyse des Biofilms ist nicht auf suffiziente Weise möglich (der Transport durch die Mundhöhle schädigt die anaeroben Keime) und hätte auch keinen relevanten Einfluss auf das heutige therapeutische Vorgehen.

Die Zunge des Menschen zeigt analog zur Haut typische Alterserscheinungen. Während die Zunge von gesunden Babys, Kindern und den meisten Jugendlichen glatt ist und keine deutlichen Strukturunterschiede zeigt (Abb. [3]), entwickeln sich im Laufe des Lebens Risse und Falten sowie Veränderungen der epithelialen Oberfläche. Die Schleimhaut verliert mit zunehmendem Lebensalter ihre Makrostruktur: das Epithel atrophiert (Abb. [4]), die Zungenpapillen und die Geschmacksknospen werden weniger und an der anterioren Unterseite der Zunge sind zuweilen Varizen der Zungenvenen zu beobachten [3].

Zoom Image
Abb. 3 Kindliche Zunge ohne sichtbare Veränderungen der Oberfläche.
Zoom Image
Abb. 4 Atrophierte Zungenoberfläche eines sehr alten Menschen.

Der vorliegende Beitrag kann und soll nur ein diagonaler Streifzug durch die vielfältigen Veränderungen der Zungenoberfläche sein. Nachfolgend werden einige typische Normvarianten und pathologische Veränderungen beschrieben – sehr viele müssen aber aus Platzgründen weggelassen werden, zu groß ist die Vielfalt. Es wird auch nicht auf den Zungenrand und die Zungenunterseite eingegangen, wo es noch ein ganz anderes Spektrum von Normvarianten und Pathologien gibt, die hier keinen Platz finden.

 
  • Literatur

  • 1 Radlanski RJ. Orale Struktur- und Entwicklungsbiologie. Berlin: Quintessenz; 2011
  • 2 Im Internet: http://de.wikipedia.org/wiki/Zunge Stand: 11.04.2014
  • 3 Radlanski RJ, Wesker KH Hrsg. Das Gesicht. Berlin: Quintessenz; 2012
  • 4 Filippi A Hrsg. Halitosis. Berlin: Quintessenz; 2011: 131-136
  • 5 Reichart PA, Philipsen HP Hrsg. Oralpathologie. Stuttgart: Thieme; 1999
  • 6 Kalifatidis A, Albanidou-Farmaki E, Daniilidis M et al. HLA alleles and fissured tongue. Int J Immunogenet 2010; 37: 509-511
  • 7 Rogers III RS, Bruce AJ. The tongue in clinical diagnosis. J Eur Acad Dermatol Venereol 2004; 18: 254-259
  • 8 Assimakopoulos D, Patrikakos G et al. Benign migratory glossitis or geographic tongue: an enigmatic oral lesion. Am J Med 2002; 113: 751-755
  • 9 Honarmand M, Farhad Mollashahi L et al. Geographic Tongue and Associated Risk Factors among Iranian Dental Patients. Iran J Public Health 2013; 42: 215-219
  • 10 Schwenzer N, Ehrenfeld M Hrsg. Zahnärztliche Chirurgie. Stuttgart: Thieme; 2000
  • 11 Itin P, Rufli T et al. Oral hairy leukoplakia in patients with kidney transplantation. Hautarzt 1991; 42: 487-491
  • 12 Tomljenovic B, Hitz Lindenmüller I, Kühl S et al. Die Schwangerschaftsepulis. Quintessenz 2013; 64: 1-7
  • 13 White JM, Chaudhry SI, Kudler JJ et al. Nd:YAG and CO2 laser therapy of oral mucosal lesions. J Clin Laser Med Surg 1998; 16: 299-304
  • 14 Pappas PG, Kauffman CA, Andes D et al. Clinical practice guidelines for the management of candidiasis: 2009 update by the Infectious Diseases Society of America. Clin Infect Dis 2009; 48: 503-535
  • 15 Roessner A, Pfeifer U, Müller-Hermelink H Hrsg. Grundmann Pathologie für Zahnmediziner. München: Urban und Fischer; 2004
  • 16 Hitz I, Lambrecht T, Fistarol S. Mundschleimhauterkrankungen viraler und bakterieller Genese. Quintessenz 2009; 60: 681-688
  • 17 Pindborg JJ. Erkrankungen der Haut und des subkutanen Gewebes. In: Reichart PA, Hrsg. Farbatlas der Mundschleimhauterkrankungen. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 1993
  • 18 Strassburg M, Knolle G Hrsg. Farbatlas und Lehrbuch der Mundschleimhauterkrankungen. Berlin: Quintessenz; 1991
  • 19 Dos Santos Pinheiro R, Ribeiro de França T, De Carvalho Ferreira D et al. Human papillomavirus in the oral cavity of children. J Oral Pathol Med 2011; 40: 121-126
  • 20 Mittermayer C Hrsg. Oralpathologie. Stuttgart: Schattauer; 1984
  • 21 Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 260.. Auflage. Berlin: De Gruyter; 2004
  • 22 Sun A, Lin HP et al. Significant association of deficiency of hemoglobin, iron and vitamin B12, high homocysteine level, and gastric parietal cell antibody positivity with atrophic glossitis. J Oral Pathol Med 2012; 41: 500-504
  • 23 Horn F, Lindenmeier G, Moc I et al., Hrsg. Biochemie des Menschen. Stuttgart: Thieme; 2002
  • 24 Bombeccari GP, Guzzi G, Tettamanti M et al. Oral lichen planus and malignant transformation: a longitudinal cohort study. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod 2011; 112: 328-334
  • 25 Ismail SB, Kumar SK, Zain RB. Oral lichen planus and lichenoid reactions: etiopathogenesis, diagnosis, management and malignant transformation. J Oral Sci 2007; 49: 89-106
  • 26 Le Cleach L, Chosidow O. Clinical practice. Lichen planus. N Engl J Med 2012; 366: 723-732
  • 27 Pindborg JJ, Reichart PA et al. Histological Typing of Cancer of the oral Mucosa. In: >World Health Organization, ed. International histological classification of tumors. 2nd ed. New York: Springer; 1997
  • 28 Gonzalez-Moles MA, Scully C, Gil-Montoya JA. Oral lichen planus: controversies surrounding malignant transformation. Oral Dis 2008; 14: 229-243
  • 29 Bornstein MM, Reichart PA, Borradori L et al. Der orale Lichen planus. Quintessenz 2010; 61: 149-155
  • 30 Lambrecht T Hrsg. Zahnärztliche Operationen. Berlin: Quintessenz; 2008
  • 31 Arduino PG, Bagan J, El-Naggar AK et al. Urban legends series: oral leukoplakia. Oral Dis 2013; 19: 642-659
  • 32 Reichart PA. Orale Leukoplakie/Erythroplakie. DGZMK, Hrsg. Wissenschaftliche Stellungnahme. Quelle: DZZ 62(01) 2007. Im Internet: http://www.dgzmk.de/uploads/tx_szdgzmkdocuments/Orale_LeukoplakieErythroplakie.pdf Stand: 11.04.2014
  • 33 Hitz I, Lambrecht T. Proliferative verruköse Leukoplakie. Schweiz Monatsschr Zahnmed 2006; 5: 509-515
  • 34 Suter VG, Morger R, Altermatt HJ et al. Erythroplakie und Erythroleukoplakie: Rote und rot-weisse Risikoläsionen der Mundhöhle. Teil 1: Epidemiologie, Ätiologie, Histopathologie und Differenzialdiagnose. Schweiz Monatsschr Zahnmed 2008; 118: 390-397
  • 35 Bornstein MM, Lys O, Altermatt HJ et al. Primärdiagnose beim Plattenepithelkarzinom der Mundhöhle. Schweiz Monatsschr Zahnmed 2005; 115: 542-548
  • 36 Feist E, Dörner T, Hansen A. Indikation und Option neuer immunmodulatorischer Therapien beim Sjögren-Syndrom. Z Rheumatol 2007; 66: 679-685
  • 37 Haust M, Bonsmann G, Kuhn A. Aktuelle Diagnostik des kutanen Lupus erythematodes. Dtsch Med Wochenschr 2006; 131: 1594-1598
  • 38 Fritsch P. Dermatologie Venerologie. Berlin: Springer; 2004
  • 39 Schönland S, Blank N, Kristen AV et al. Systemische Amyloidosen. Internist 2012; 53: 51-64
  • 40 Brandstetter M, Matsuba Y, Knopf A. Die Diagnose liegt auf der Zunge. HNO 2012; 60: 443-445
  • 41 Metzner C, Hadziselimovic S, Grafe I et al. Therapeutisches Management bei der Akromegalie. Med Klin 2006; 101: 15-23
  • 42 Klatt K, Sbeity Z, Löffler KU. Rezidivierende asymmetrische Schwellung im Gesichtsbereich. Ophthalmologe 2006; 103: 1047-1049
  • 43 Hornstein OP. Glossitis granulomatosa – ein ungewöhnlicher Subtyp des Melkersson-Rosenthal-Syndroms. Mund Kiefer Gesichtschir 1998; 2: 14-19