Gesundheitswesen 2013; 75 - A225
DOI: 10.1055/s-0033-1354177

Sozialer Gradient in der Psychotherapie? Eine Sekundärdatenanalyse der Inanspruchnahme antragspflichtiger Psychotherapie im Zeitraum 2005 – 2009 mit Daten der AOK Niedersachsen

J Jaunzeme 1, S Geyer 1
  • 1Medizinische Hochschule Hannover, Hannover

Hintergrund: In der Resolution des 22. Deutschen Psychotherapeutentages vom 20. April 2013 skizzierten die Delegierten gesundheitspolitischen Handlungsbedarf, u.a. im Hinblick auf eine leitliniengerechte Behandlung von psychisch kranken Menschen „unabhängig von Alter, sozialem Status, Geschlecht und Herkunft“ [1]. Die empirische Basis für die Annahme, die Inanspruchnahme von psychotherapeutischen Behandlungen wäre abhängig vom sozialen Status der Patienten, fehlt jedoch für Deutschland bislang. Zahlreiche Befragungsstudien belegen höhere Inanspruchnahmeraten der professionellen Hilfe bei Frauen mit psychischen Störungen (z.B. DEGS-2011: 46% vs. 28% bei Männern, [2] BGS98: 45% vs. 34% [3]), auch bei bestimmten Altersgruppen konnten höhere Inanspruchnahmeraten identifiziert werden (s. ebenda). Offen bleibt, welchen Einfluss der soziale Status der Patienten auf die Inanspruchnahme von Psychotherapie hat. Daten/Methodik: Diese Untersuchung wird mit Routinedaten der AOK Niedersachsen für Zeitraum 2005 – 2009 durchgeführt (ca. 3 Mio. Versicherte). Dies ermöglicht rücklaufunabhängige Analysen der Inanspruchnahmedaten und damit eine vom Gesundheitszustand der Befragten – der in Befragungsstudien insbesondere bei psychischen Krankheitsbildern einen bedeutsamen Verzerrfaktor darstellen dürfte – unabhängige Untersuchung. In einer multiplen logistischen Regressionsanalyse soll der Einfluss von mehreren soziodemographischen und morbiditätsbezogenen Faktoren (u.a. ambulante Diagnosen, Psychopharmakaverbrauch) auf die Inanspruchnahme der antragspflichtigen Psychotherapie bestimmt werden. Ergebnisse: Die Analysen konzentrieren sich bislang auf zwei von drei Richtlinienverfahren: die Verhaltenstherapie und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, die insgesamt von ca. 90% der Psychotherapiepatienten in Anspruch genommen werden. Die ersten Berechnungen zeigen, dass Versicherte, die sich in der Ausbildung (inkl. Studierenden, Zivil- oder Wehrdienstleistenden u.ä.) befinden, wie auch Versicherte, die Transferleistungen vom Staat erhalten, überdurchschnittlich häufig unter Patienten vertreten sind, die eine antragspflichtige Psychotherapie in Anspruch nehmen (OR: 2,2 bzw. 1,9). Bei Beschäftigten, die ebenfalls ein erhöhtes Chancenverhältnis für die Inanspruchnahme einer antragspflichtige Psychotherapie aufzeigen (OR: 1,4), lässt sich ein erhöhter Anteil der Patienten mit abgeschlossener Berufsausbildung bzw. einem abgeschlossenen Hochschulabschluss feststellen. Es wird nun geprüft, ob diese oder weitere in Routinedaten der gesetzlichen Krankenkasse verfügbaren Versichertenmerkmale, die auf den sozialen Status der Person schließen lassen, einen vom Geschlecht und Alter unabhängigen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit ausüben, eine antragspflichtige Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Diskussion: Die bisherigen Untersuchungen zur Inanspruchnahme von Psychotherapie basieren fast ausschließlich auf Befragungsdaten von Patienten oder Psychotherapeuten. Mit dieser Untersuchung wird erstmalig eine rücklaufunabhängige Analyse von Psychotherapiedaten durchgeführt. Durch mehrere Zugänge zur Operationalisierung des sozialen Status wird gleichzeitig versucht, den Schwächen der Routinedaten entgegenzuwirken. Diese Analyse stellt damit einen ersten Schritt dar auf dem Weg zur besseren Bedarfsplanung für die psychotherapeutische Versorgung, wie sie vom 22. Deutschen Psychotherapeutentag gefordert wurde [1].