Gesundheitswesen 2013; 75 - A197
DOI: 10.1055/s-0033-1354154

Die Qualität der fachärztlichen Versorgung von Pflegeheimbewohnern mit Demenz: Ergebnisse eines Soll-Ist-Vergleichs

K Balzer 1, S Butz 1, D Lühmann 2
  • 1Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Universität zu Lübeck
  • 2Institut für Allgemeinmedizin, UKE

Hintergrund: Rund zwei Drittel der Pflegeheimbewohner in Deutschland leiden an einer demenziellen Erkrankung (1). Aufgrund der krankheitstypischen kognitiven und psychosozialen Veränderungen sowie häufig ausgeprägter somatischer Komorbidität stellen die Betroffenen besondere Anforderungen an die medizinische Versorgung. Die Qualität der fachärztlichen Versorgung von Pflegeheimbewohnern mit Demenz war daher ein Schwerpunkt eines vom Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) beauftragten Health Technology Assessment (HTA) (2). Die Arbeit zielte darauf, herauszufinden, inwieweit es Belege für eine Unter-, Fehl- oder Überversorgung gibt. Methodik: Die Beantwortung der Fragestellung erfolgte mittels einer systematischen Übersichtsarbeit. Um das Risiko inadäquater fachärztlicher Versorgung zu bewerten, wurden Daten zur Inanspruchnahme fachärztlicher Leistungen (Ist) mit Empfehlungen zur medizinischen Versorgung demenziell erkrankter Personen (Soll) verglichen. Folgende Datenquellen, jeweils bezogen auf den deutschen Versorgungskontext, wurden eingeschlossen: i) versorgungsepidemiologische Studien zur Inanspruchnahme fachärztlicher Leistungen durch Bewohner mit Demenz und ii) Empfehlungen aus aktuellen evidenzbasierten, konsentierten Leitlinien zur fachärztlichen Versorgung von Personen mit Demenz. Die Recherchen (Recherchezeitraum 2000 bis 2011) umfassten Suchen in 34 Literatur- und 6 Leitliniendatenbanken sowie in Zeitschriftenportalen, Referenzlisten relevanter Artikel und weiteren Informationsressourcen. Die Qualität der eingeschlossenen Studien und Leitlinien wurde nach anerkannten Standards (3, 4) kritisch bewertet. Die Informationssynthese und der Soll-Ist-Vergleich erfolgten strukturiert-narrativ. Ergebnisse: Fünf versorgungsepidemiologische Studien (Median n = 304 Bewohner) und zwei Leitlinien (5, 6) konnten zur Beantwortung der Fragestellung herangezogen werden. Die Validität von vier der fünf Studien ist durch stichprobenbedingte Unsicherheiten und ein hohes Confounding-Risiko limitiert. Die Leitlinien erwiesen sich als methodisch zuverlässig. Die versorgungsepidemiologischen Befunde zeigen eine hohe hausärztliche Versorgungsdichte (100% mit ≥1 Arztkontakt/Quartal). Eine neurologische oder psychiatrische Mitbetreuung ist für circa 30% der demenziell erkrankten Bewohner ausgewiesen, die Beteiligung anderer Facharztrichtungen für ≤20%. Auswertungen von Diagnosedaten signalisieren ein 30%iges Risiko falsch-negativer und ein 15%iges Risiko falsch-positiver Demenz-Diagnosen bei insgesamt oft unzureichend differenzialdiagnostischer Abklärung. Bis zu 70% der Betroffenen nehmen laut Verordnungsdaten mindestens ein Psychopharmakon ein. Am häufigsten werden Neuroleptika (bei ca. 20 bis 50%) verschrieben, gefolgt von Antidepressiva (bei bis zu 30%) und Antidementiva (bei bis zu 17%). Heilmittel werden seltener verordnet (bei ca. 20%). Gegenüber verfügbaren Leitlinienempfehlungen deuten diese empirischen Befunde auf mehrere Bereiche der inadäquaten Versorgung hin: ungenaue Diagnostik der kognitiven Einschränkungen (Unter- und Fehlversorgung), Unterversorgung mit Antidementiva und Heilmitteln sowie Fehlversorgung mit Psychopharmaka, insbesondere Neuroleptika. Nebenbefunde der ausgewerteten Studien legen nahe, dass diese Defizite multifaktoriell bedingt sind, z.B. durch unzureichend evidenzbasiertes Handeln und eine unbefriedigende Zusammenarbeit der beteiligten professionellen Akteure (Hausärzte, Fachärzte, Pflegekräfte). Diskussion/Schlussfolgerungen: Durch den Soll-Ist-Vergleich konnten Bereiche der inadäquaten (fach-)ärztlichen Versorgung von Bewohnern mit Demenz identifiziert werden. Diese Ergebnisse haben ausschließlich hinweisenden Charakter. Unsicherheiten in den versorgungsepidemiologischen Daten, aber auch in den Leitlinienempfehlungen (teils schwache Empfehlungsstärken, unzureichende Berücksichtigung der Multimorbidität) lassen es nicht zu, das Ausmaß der Unter-/Fehlversorgung oder mögliche gesundheitliche Konsequenzen für die Bewohner valide abzuschätzen. Auch ist eine eindeutige Differenzierung zwischen haus- und fachärztlichen Leistungen schwierig. Dennoch gibt dieser HTA-Bericht wichtige Hinweise für die Verbesserung der medizinischen Versorgung von Pflegeheimbewohnern mit Demenz. Entsprechende Strategien sollten an den identifizierten Problembereichen und Barrieren ansetzen und mit robusten Methoden evaluiert werden (2).