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DOI: 10.1055/s-0033-1354082
Patientenhandeln im Gesundheitssystem – ein soziologisches Modell zum Inanspruchnahmeverhalten
Hintergrund: Patienten sind zentrale Akteure im Gesundheitssystem ihr Handeln beeinflusst den Behandlungserfolg, aber auch Effizienz und Kosten der Gesundheitsversorgung. Um Patientenhandeln beeinflussen zu können, ist es daher von fundamentaler Bedeutung zu verstehen, wie Menschen Entscheidungen zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen treffen. Empirische Forschung hat gezeigt, dass bei den allermeisten physischen und psychischen Symptomen keine Gesundheitsleistungen in Anspruch genommen werden. Darüber hinaus ist bekannt, dass nicht nur Charakteristika des Patienten (z.B. Bildung, Gesundheitseinstellungen), sondern auch soziale Netzwerke und Versorgungsstrukturen des Gesundheitssystems die Inanspruchnahme bestimmter Leistungen wahrscheinlicher machen. Dennoch fehlt ein theoretisches Verständnis wie diese unterschiedlichen Faktoren zusammenwirken und unter welchen Bedingungen Patienten medizinische Leistungen anderen Handlungsstrategien wie Selbstbehandlung oder alternativen Heilmethoden vorziehen. Methodik: Die vorliegende Arbeit zeigt wie sozialwissenschaftliche Theorien zum Entscheidungsverhalten genutzt werden können um bestehende Modelle zum Inanspruchnahmeverhalten wie Andersens „Behavioral Model of Health Service Utilization“ oder Rosenstocks „Health Belief Model“ so zu erweitern, dass präzisere Vorhersagen darüber möglich sind, welche Leistungen wann von welchen Patienten in Anspruch genommen werden. Unser „Healthcare-seeking decision model“ zeigt, dass sowohl Gesundheitseinstellungen als auch Kosten-Nutzenerwägungen bei der Entscheidung zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen eine Rolle spielen. Ergebnisse: Haben Personen oder enge Netzwerkpartner starke Präferenzen für eine medizinische Reaktion auf physische oder psychische Probleme, so besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine frühe und häufige Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Bei schwach verankerten oder konkurrierenden Normen spielen vor allem Kosten-Nutzen-Überlegungen eine Rolle, z.B. Zeit, Erreichbarkeit, Zuzahlungen. Soziale Ungleichheit im Inanspruchnahmeverhalten kann sowohl auf klassenspezifische Unterschiede in den normativen Überzeugungen zum Gesundheitssystem als auch auf relativ höherer Kosten für benachteiligte soziale Gruppen zurückgehen. Diskussion/Schlussfolgerung: Das „Healthcare-seeking decision model“ integriert aktuelle sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zum menschlichen Entscheidungsverhalten in etablierte Modelle zum Inanspruchnahmeverhalten. Das Modell ermöglicht spezifische Hypothesen über die Rolle von Normen und Kosten-Nutzen-Überlegungen bei der Entscheidung über die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Somit ermöglicht das Modell Patientenhandeln im Krankheitsfall nicht nur besser zu verstehen, sondern auch Patientengruppen zu idenfizieren, die unterschiedliche Strategien zur Navigation im Gesundheitssystem anwenden. Das Modell leistet damit einen theoretischen Beitrag zu Modellen der Versorgungsforschung mit direkter Anwendbarkeit in der empirischen Forschung zu Patientenhandeln im Gesundheitssystem.