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DOI: 10.1055/s-0033-1354072
Priorisierung im Gesundheitswesen in Deutschland und Norwegen. Ein mentalitäts- und organisationssoziologischer Vergleich
Einleitung: Priorisierung ist ein zentraler Begriff der gesundheitsökonomischen Analyse und der Gesundheits- und Professionspolitik der letzten 10 Jahre. Internationale Systemvergleiche spielen dabei auf allen Ebenen der Diskussion eine große Rolle. Dabei stellt die Verquickung von Priorisierung mit Rationierung ein spezifisch deutsches Phänomen dar, welches sich in den gerne herangezogenen skandinavischen Ländern nur in geringem Umfang finden lässt. Nicht nur in diesem Punkt werden oft Unterschiede in Mentalitäten und auch in organisatorischen Strukturen zwischen den verglichenen Gesundheitswesen unterschätzt. Nur ein zugleich organisations- als auch mentalitätssoziologischer Zugang ermöglicht aber ein Verständnis der gesellschaftlichen Funktion von Priorisierungsdiskussionen. Methodik: Die weitgehend in den Alltag von sowohl medizinischer Versorgung als auch Versorgungsplanung integrierte Priorisierung in Norwegen wird mit der ideologisch aufgeladenen gesundheitspolitischen Diskussion in Deutschland verglichen. Dabei werden Gesetzestexte, Funktionsbestimmungen beteiligter Institutionen, Ausführungsbestimmungen sowie gesundheitsökonomische und medizinsoziologische Forschungsergebnisse herangezogen. Mentalitätssoziologisch steht die Frage nach dem Verhältnis „öffentlicher Güter“ (A. Sen) zu staatlicher Planung im Vordergrund. Ergebnisse: Eine wichtige Prämisse der weit fortgeschrittenen Implementierung von Priorisierung in Norwegen ist das Zusammenfallen von Versorgungsauftrag und Leistungserbringung: die institutionelle Homogenität des fast ausschließlich staatlichen Gesundheitswesens macht Priorisierung zu einer normalen systeminternen planerischen Entscheidung. Im deutschen Gesundheitssystem, das durch sektorale Grenzen und das ordnungspolitische Prinzip der Selbstverwaltung gekennzeichnet ist, wird dagegen die Legitimationslast von Entscheidungen mit unliebsamen Konsequenzen aus dem eigenen institutionellen oder professionellen Subsystem auf andere Akteure – in der Regel „die Politik“ – externalisiert. Ein prinzipiell positives Verständnis von Staatlichkeit in Norwegen steht dabei einer historisch begründeten Staatsskepsis in Deutschland gegenüber. Daher steht die Frage nach den Akteuren für die grundsätzlich notwendige Priorisierung im Gesundheitswesen vor dem Problem, dass „der Staat“ als Planungs- und Handlungsinstanz ausscheidet, während in der „Vertrauenskultur“ Norwegens staatliche Eingriffe eher als legitim angesehen werden. Zu dieser Vertrauenskultur gehört auch die hohe gesellschaftliche Wertschätzung von Konsens im Gegensatz zur eher konfliktgesteuerten politischen Kultur in Deutschland. Last not least ermöglicht der hohe Rang des Wertes „materielle Gleichheit“ in Norwegen die transparente gesellschaftliche Diskussion von Priorisierungsfragen und die konfliktarme Implementierung ihrer Resultate. Dem steht in Deutschland eine stark verrechtlichte, an Fragen der individuellen Zugangsberechtigung zu Gesundheitsleistungen orientierte Diskussion gegenüber, die offensichtlich immer noch durch archaische Erfahrungen von Mangel und Not geprägt ist. In einem detaillierten Vergleich der Institutionen und der politischen Prozesse werden diese mentalitäts- und organisationssoziologischen Unterschiede erläutert. Schlussfolgerung: Internationale Vergleiche sind hilfreich, um Erfolgsaussichten gesundheitspolitischer Entscheidungen auszuloten. Gleichzeitig aber müssen Lösungen, die in einem Land funktionieren mögen, immer im Kontext ihrer gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen gesehen werden. Zu einen betrifft dies Fragen von Mentalität und Moral wie das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit und den Stellenwert des Staates für die Verwirklichung öffentlicher Interessen. Zum anderen und eng damit zusammen hängend entscheidet die organisatorische Struktur eines Gesundheitssystems darüber, in wie weit Diskussionen über Priorisierung von Gesundheitsleistungen mit implementierbarem Ergebnis geführt werden können. Der Systemvergleich zwischen Deutschland und Norwegen zeigt, dass erfolgreiche Lösungen nicht ohne weiteres übertragen werden können, solange ihre spezifischen kulturellen und institutionellen Prämissen nicht berücksichtigt werden.