Hintergrund: In der vorliegenden Studie soll untersucht werden, welche Ansichten die Allgemeinbevölkerung
zu Essstörungen (Anorexia nervosa [AN] oder Bulimia nervosa [BN]) hat, welche Haltung
sie gegenüber betroffenen Personen einnimmt, und wodurch diese beeinflusst wird. Im
Mittelpunkt der Untersuchung stehen das Ausmaß des Wunsches nach sozialer Distanz,
die Attribuierung auf verschiedene Ursachen, Behandelbarkeit, emotionale Reaktionen
gegenüber betroffenen Personen sowie die Zuschreibung spezifischer Eigenschaften.
Da sich die Prävalenz für beide Erkrankungsbilder nach Geschlecht unterscheidet, wird
davon ausgegangen, dass auch Einstellungen gegenüber betroffenen Personen bei Männern
und Frauen unterschiedlich ausgeprägt sind. Die Analysen gehen auf folgende Fragstellungen
ein:
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Welche Ansichten hat die Allgemeinbevölkerung gegenüber Essstörungen und Betroffenen?
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Unterscheiden sich weibliche und männliche Befragte diesbezüglich?
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Besteht ein Zusammenhang zwischen soziodemographischen Faktoren, Ursachenzuschreibungen,
emotionalen Reaktionen und dem Wunsch nach sozialer Distanz gegenüber Betroffenen?
Methode: Vorliegende Daten stammen aus einer Telefonumfrage, die 2011 in Hamburg und München
(N = 2014, Antwortquote 51%) durchgeführt wurde, und die das Wissen der Allgemeinbevölkerung
um und ihre Einstellungen zu verschiedenen psychischen Erkrankungen und davon Betroffenen
zum Inhalt hatte. Für die Erhebung wurden unter anderem Fallgeschichten (Vignetten)
für Anorexia nervosa und Bulimia nervosa erstellt. Den Befragten wurden Fragen nach
sozialer Distanz, Ursachenzuschreibungen, Behandelbarkeit und emotionalen Reaktionen
gestellt. Die Vignetten wurden dabei zufällig variiert. Aus jeder Stadt liegen die
Angaben von ca. 670 Befragten für die Krankheitsbilder Depression und Schizophrenie
bzw. ca. jeweils 335 Befragten für die Krankheitsbilder Anorexia nervosa und Bulimia
nervosa vor. Ergebnisse: 68,1% der Befragten sind überzeugt, dass Essstörungen gut/sehr gut behandelbar sind,
Therapien die als eher wirksam erachtet werden sind Psychotherapie (40,2%) und Selbsthilfegruppen
(42,7%). Geschlechtsspezifisch signifikante Unterschiede zeigen sich für die Ursachenattribuierungen
und die emotionalen Reaktionen. Während Männer die Gründe für die Entstehung einer
Essstörung eher in der betroffenen Person selbst sehen (Willensschwäche), geben Frauen
häufiger externe Ursachen an (nachteilige Bedingungen in der Kindheit). Bei Frauen
rufen Personen mit Essstörungen signifikant häufiger das Gefühl der Sympathie hervor,
gleichzeitig zeigen sie sich aber auch verärgerter als Männer. Dies spiegelt sich
auch im Wunsch nach sozialer Distanz gegenüber Betroffenen wider, der bei Frauen ausgeprägter
ist. Regressionsanalysen zeigen einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Wunsch
nach sozialer Distanz und Alter und Geschlecht der Befragten sowie emotionalen Reaktionen:
Je älter die Befragten, desto größer der Wunsch nach Distanz umso mehr prosoziale
Reaktionen ausgelöst werden, desto geringer der Wunsch nach Distanz. Schlussfolgerung: Die Untersuchung zeigt, dass die Allgemeinbevölkerung bezüglich Essstörungen relativ
gut informiert ist und Betroffenen eher positiv gegenüber steht. Der höhere Grad der
Verärgerung bei Frauen, bei gleichzeitiger Sympathiebekundung, lässt den Rückschluss
zu, dass weibliche Befragte im Vergleich zu männlichen Befragten eher ambivalente
Gefühle zulassen. Das gewünschte Ausmaß nach sozialer Distanz wird von emotionalen
Reaktionen wie Ärger oder Mitleid beeinflusst. Der signifikante Zusammenhang zwischen
Alter und sozialer Distanz könnte dadurch bedingt sein, dass insbesondere Anorexie
deutlich häufiger im Jugendalter auftritt.