PPH 2013; 19(04): 186-187
DOI: 10.1055/s-0033-1351361
Szene
Larses lyrische Lebensberatung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie atme ich durch?

Lars Ruppel
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Publication Date:
24 July 2013 (online)

Ich gebe es offen zu: Ich bin ein leidenschaftlicher Atmer. Seit ich denken kann, atme ich fast täglich und ich übertreibe wohl nicht, wenn ich sage, dass ich mich im Bereich der Atmung auf internationalem Top-Niveau bewege. Viele Menschen glauben immer noch, dass es sich beim Atmen lediglich um eine routinemäßige Lebensnotwendigkeit handelt. Nimmt man sich aber einen Moment Zeit für den eigenen Atem, stellt man fest: Atmen ist heutzutage wichtiger denn je.

Hektisches Atmen „to go“ zwischen zwei Terminen ist unbefriedigend und ungesund. Ein hörbares Ausschnaufen durch die Nase ist ein sicheres Zeichen für erhöhte Unzufriedenheit. Schluckauf wird bedingt durch zu schnelles Essen. Rauch im Atem deutet auf eine ungesunde Lebensweise hin. Ist das Atmen auch ohne Tabak sichtbar, sollte man die Heizung hochdrehen. Schnelles Atmen nach dem Erklimmen eine Treppe ist ein Hinweis auf ein mögliches sportliches Defizit. Werden durch das Atmen Kerzen gelöscht, ist das möglicherweise ein Zeichen dafür, dass man ein Jahr älter geworden ist. Ein tiefes Gähnen könnte als erstes Anzeichen von Müdigkeit gedeutet werden. Und wer schon lange nicht mehr auf von Atem beschlagenen Glasscheiben Käsekästchen gespielt hat, sollte sich vielleicht mal wieder Zeit für die kleinen Dinge im Leben nehmen.

Ein einfaches Experiment veranschaulicht den immensen Wirkungskreis des eigenen Atems auf das soziale Umfeld: Essen Sie morgens drei Knoblauchzehen zum Frühstück, atmen Sie tief durch und beobachten Sie die Reaktionen der Menschen in Ihrer Umgebung. Denn nicht nur das eigene Atmen ist für das Leben von Bedeutung. Auch dem Atmen der Mitmenschen sollte Beachtung geschenkt werden.

Atmen ist eben nicht nur ein Vorgang zum Sauerstoffaustausch des menschlichen Körpers. Er gibt uns eine Stimme und birgt in sich selbst einen großen nonverbalen Wortschatz. Oft verrät das Atmen, was die Worte verbergen. Ich selbst habe vor Auftritten oder in schwierigen Situationen erlebt, wie mein Atmen außer Kontrolle geraten kann. Wenn sich die Atmung scheinbar gegen den eigenen Körper wendet und einen Kreislauf aus Angst in Gang setzt, aus dem man von alleine nur schwer wieder entkommen kann. Wie so oft im Leben, liegt die Lösung für dieses Problem in der Poesie. „Larses lyrische Lebensberatung“ empfiehlt bei Problemen rund ums Atmen das Gedicht „Im Atemholen sind zweierlei Gnaden“ von Johann Wolfgang von Goethe. Vorzutragen entweder im Notfall oder mehrmals am Tag präventiv zur Entspannung.

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:

Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;

Jenes bedrängt, dieses erfrischt;

So wunderbar ist das Leben gemischt.

Du danke Gott, wenn er dich preßt,

Und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt.

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Über Goethes Verhältnis zur Atmung ist wenig bekannt, nur, dass er bis zu seinem Lebensende wohl selbst geatmet hat. Dieses Gedicht aber zeugt davon, dass sich der alte Verseschmied wichtige Gedanken zu diesem Thema gemacht hat. Unerfahrenen Lesern von Gedichten empfehle ich stets, die Gedichte laut zu lesen, denn nur so wird der den Gedichten innewohnende Klang und Geist lebendig. Besonders dieses Gedicht birgt ein unerhörtes Geheimnis. Liest man es sich laut vor erkennt man, dass Goethe dieses Gedicht als Anleitung zum ausgiebigen Atmen geschrieben hat. Beginnen Sie mit dem Einatmen nach „Im Atemholen…“ und atmen Sie aus nach „...sind zweierlei Gnaden“. Der Rest geht von alleine. Sie erhöhen die Wirksamkeit des Gedichts durch geöffnete Fenster oder durch atemfreundliche Armbewegungen im Rhythmus des Textes.

Man muss sich nicht unbedingt bei Gott für das Atmen bedanken. Aber eine Bewusstwerdung des Privilegs, atmen zu dürfen, finde ich besonders wichtig. Wenn ich dieses Gedicht für Senioren vortrage und sie zum gemeinsamen Atmen einlade, erlebe ich immer wieder, wie Menschen mit geschlossenen Augen sich aufrichten, den Brustkorb voll mit Luft saugen, genüsslich ausatmen und auf ihren Atem hören. Dieses Geräusch, das einen das ganze Leben lang begleitet, das so viel erzählen kann und so viel Genuss bringen kann. Glasklare Bergluft, salzige Meereswinde, das Schnarchen eines geliebten Menschen im Schlaf – all das gibt es täglich, kostenlos und in unendlich vielen Geschmacksrichtungen.

Lesen Sie das nächste Mal: Wie träume ich?

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Wir wünschen viel Hörvergnügen!