Gesundheitswesen 2013; 75(08/09): 471-472
DOI: 10.1055/s-0033-1351307
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Krieg und Frieden

M. Wildner
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Publication Date:
16 September 2013 (online)

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Prof. Dr. med. Manfred Wildner

„Nun, Fürst, hat die Familie Bonaparte auch Genua und Lucca in Besitz genommen? Ich sage Ihnen, Sie sind nicht mehr mein Freund, […], wenn Sie noch ferner die Notwendigkeit des Krieges leugnen und noch länger die Greuel verteidigen wollen, welche dieser Antichrist begeht“. Mit diesen Sätzen beginnt Leo Tolstoi seinen 4-teiligen historischen Roman „Krieg und Frieden“, welcher die Zeit von 1 805 bis 1 812 aus russischer Sicht und als Spiegel der damaligen adligen Gesellschaft beschreibt. Die Handlungsstränge und Personen stehen in Ihrer Vielfalt und Buntheit den Epigonen moderner TV-Epen in keinster Weise nach. Die Erzählstränge aus Krieg und Frieden sind eng ineinander verwoben. Krieg und Frieden: sind sie tatsächlich ein unauflösbares menschliches Schicksal – und sollten sich die Greuel des Krieges tatsächlich nur mit neuem Krieg bekämpfen lassen, Feuer gegen Feuer? (http://gutenberg.spiegel.de/buch/4040/1). „Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König“ ist als Fragment des Philosophen Heraklit von Ephesus überliefert (520 v.Chr. bis 460 v.Chr.).

Ist der Krieg wirklich aller Dinge Vater? Der Kunstmaler Max Beckmann (1884–1950), Mitglied der Berliner Sezession, hielt Krieg für ein „nationales Unglück“. Er bemerkte aber auch: „Meine Kunst kriegt hier zu fressen“. Während des Ersten Weltkrieges weigerte er sich, an Kampfhandlungen teilzunehmen und diente selbst als freiwilliger Sanitätshelfer an der Ostfront und in Flandern: „Auf die Franzosen schieße ich nicht, von denen habe ich so viel gelernt. Auf die Russen auch nicht, Dostojewski ist mein Freund“. Im Jahre 1915 erlitt er einen Nervenzusammenbruch.

Soweit Literatur, Philosophie und Mythologie – als Menschen der Moderne interessiert uns vor allem die Empirie. So sei als empirisch zu beantwortende Frage formuliert, welchen gesundheitlichen Folgen Angehörige militärischer Einheiten in gewaltsam ausgetragenen Konflikten ausgesetzt sind. Auch wenn sich diese Folgen nur zum Teil in Zahlen fassen lassen – hier möchte man doch gerne die Einzelfälle und tragischen Schicksale zu Wort kommen lassen – seien nüchterne Eckdaten aus dem Irak-Krieg (2003–2011) berichtet [1]. Aus diesem Konflikt, welcher sich über 8 Jahre erstreckte, werden für die Angehörigen der westlich geführten Koalitionstruppen 4 800 Todesfälle berichtet. Hinzu kommen allein für das Militärpersonal der USA 31 000 Verletzte. Ein erheblicher Anteil dieser Traumatisierungen war neurologisch-psychiatrischer Natur in Form von traumatischen Schädel-Hirn-Verletzungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen psychologischen oder psychosozialen Problemen. Infektionskrankheiten und nicht-kampfbedingte Unfälle und Verletzungen spielen ebenfalls eine große Rolle.

In Ergänzung dazu lässt sich auch nach der Empirie der gesundheitlichen Auswirkungen von gewaltsamen Konflikten auf die Zivilbevölkerung fragen. Auf Seiten der irakischen Zivilbevölkerung werden in der oben zitierten Studie 117 000 Todesfälle angegeben. Hinzu kommen mehr als 5 Mio. vertriebene Personen. Hier können die psychosozialen Folgeschäden wie auch die allgemeine Krankheitslast nur grob geschätzt werden. Die Zahlen, welche von den militärischen Einsatzkräften abgeleitet werden können, legen einen Faktor von 5–10 für Verletzungen gegenüber Todesfällen nahe. Hinzu kommen die mit den Traumatisierungen von Zivilpersonen oder Soldaten verbundenen psychosozialen Probleme der Familienangehörigen bzw. Partner, welche teilweise über Generationen wirksam bleiben. Die Zivilbevölkerung trägt damit vielleicht nicht beim individuellen Risiko, wohl aber bei weitem in der Summe die Hauptlast des Krieges.

So erstaunt nicht, dass die Evidenz dafür, dass sich in Friedenszeiten erhebliche gesundheitliche Dividenden zeigen, augenfällig ist. Eine steigende Lebenserwartung, funktionierende System der medizinischen Versorgung und Sozialsysteme und Health Assets im Sinne der Weltgesundheitsorganisation üben hier den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ aus. Was mit dem „Health Assets“-Ansatz gemeint ist? Hierunter werden materielle und soziale Ressourcen verstanden, welche die Gesundheit einer Bevölkerung fördern und aufrecht erhalten. Beispiele dafür sind wie oben genannt funktionierende, effektive und allgemein zugängliche Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung, gleichzeitig auch weniger leicht fassbare Beiträge wie die Bereitschaft zur Solidarität und Unterstützung von vulnerablen Gruppen in einer Gemeinschaft. Vor diesem Hintergrund sollte man sich davor hüten, Krieg als gleichwertige Normalität wie den Frieden zu akzeptieren. Inzwischen wird darüber hinaus deutlich, dass die Gesundheitsthematik auch für eine friedenserhaltende innen- und außenpolitische Strategieentwicklung einen wichtigen Beitrag leisten kann.

Ist Gewalt noch ein Thema für das Gesundheitswesen in einem geeinigten Europa? Die Übergänge zwischen gewaltsamen Konflikten und Frieden verlaufen oft mit verwirrenden Grenzziehungen, sowohl auf der großen politischen Bühne wie in den kleinen sozialen Scharmützeln: In den Familien, in Partnerschaften, am Arbeitsplatz, im Wohnumfeld von Städten und Gemeinden. Eine bewusste und auch sensible Wahrnehmung von Gewalt als soziale und politische Realität ist notwendig. Und genauso, wie unter dem Begriff des „Dual Use“ die doppelte Verwendung von Technologien, welche ursprünglich für Friedenszwecke entwickelt wurden, auch im Krieg verstanden wird, kann umgekehrt auch eine Technologie, welche für Kriegszwecke entwickelt wurde, in Friedenszeiten fruchtbar werden. Das Internet und die weltumspannenden Satellitenkommunikationen sind nur ein Beispiel. Wichtige Ergebnisse der Auseinandersetzung mit drohender gewaltsamer Eskalation mit Relevanz auch „im Kleinen“ sind im besonderen de-eskalierende Kommunikationsstrategien wie Marshall Rosenbergs „Gewaltfreie Kommunikation“ [2] oder Roger Fishers „Harvard-Konzept“ [3].

Es scheint in diesem Zusammenhang an der Zeit, gerade im ­Herzen Europas die kriegerischen Metaphern im allgemeinen Sprachgebrauch bewusst und auch kritisch wahrzunehmen und falls angebracht auch zu vermeiden. Ist es wirklich das Bild eines Kampfes – gegen Krebs, gegen Infektionen oder Depressionen – welches uns lenken sollte? Wäre nicht eher ein Begriff wie Achtsamkeit angebracht [4]? Achtsamkeit im Umgang mit seinem Körper, Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst, Achtsamkeit im Umgang mit dem Leben und der Gesundheit wie auch mit der Würde anderer Menschen? Zugegebenermaßen beginnt Achtsamkeit sehr viel früher als die verschiedenen verdeckten und offenen Formen der gewaltsamen Austragung von Konflikten – hierin liegt gerade die Chance. Ein achtsames Gesundheitswesen, eine achtsame Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit der Herausforderung Krebs – ist das nicht das passendere Leitmotiv für gesundheitsförderliches Verhalten in der Primärprävention, ebenso wie für eine bewusste Entscheidung für die Krankheitsfrüherkennung oder für rehabilitative Maßnahmen im Rahmen der Tertiärprävention? Die Achtsamkeit setzt dabei eine differenzierte und geistig anspruchsvolle Herangehensweise voraus. Eine Herangehensweise, die einerseits von hoher menschlicher Qualität sein sollte, andererseits fest auf den oft mühsam erarbeitenden Ergebnissen einer der Wahrheit verpflichtenden Wissenschaftlichkeit beruht.

Im philosophischen Denken des Heraklit spielte letztlich auch nicht wirklich der Krieg die führende Rolle, sondern der Logos. Gemeint ist hiermit eine die Welt durchwirkende Gesetzmäßigkeit, welche sich gedanklich auch im Prolog des Johannes-Evangeliums wiederfindet: „Am Anfang war der Logos.“ Dieser Logos ist jene vernünftige, achtsame und damit eben auch wissenschaftliche Denkweise, wie sie sich „logischerweise“ in den Wortbestandteilen der Physiologie, der Pathologie und der Epidemiologie wiederfindet.

Im Geiste solcher achtsamen Wissenschaftlichkeit stellt diese Ausgabe unserer Zeitschrift wieder Themen und Forschungs­ergebnisse aus dem Gesundheitswesen vor: zu Gewalt in der Schwangerschaft in OECD-Ländern, zur Qualität des deutschen Gesundheitswesens im internationalen Vergleich, zur Substitutionsbehandlung im Rahmen der beruflichen Wiedereingliederung, zu neuen Tätigkeitsprofilen für Medizinische Fachangestellte, zur präventiven Beratung durch Hausärzte, zur möglichen Rolle von Kläranlagen während der EHEC-Epidemie 2011, zu einrichtungsinternen Effekten einer Krankenhauszertifizierung, zum TANDEM-Projekt für ältere Langzeitarbeitslose, zu Auswirkungen der „Ernährungsampel“ auf das Ernährungsverhalten, zum expressiven Wortschatz mehrsprachig aufwachsender Kinder und zu Normwerten des HASE-Sprachscreeningin­struments, sowie – als Sommerthema – zur Hitzewellen-assoziierten Mortalität in Großstädten. Ein besonderes „Highlight“ sind auch wieder die Abstracts der Jahrestagungen von DGSMP und DGMS, welche dieses Jahr wieder als gemeinsame Veranstaltung in Marburg stattfinden.

Das russische Wort für Frieden in Tolstois großem Werk „Krieg und Frieden“ lautet „Mir“. So war auch die erste, noch zu Zeiten der Sowjetunion erbaute Raumstation benannt, welche bis 2001 die Erde umkreiste. In Folge eines ursprünglich militärisch motivierten Wettlaufs ins All war die russische Mir auf einen dauerhaften wissenschaftlichen Betrieb ausgelegt und ermöglichte in ihrem modularen Aufbau auch eine Andockstelle für die US-amerikanische Raumfähre Atlantis. Sie diente als Vorbild für die spätere, ebenfalls modular aufgebaute internationale Raumstation ISS. So stimmt es mit Einschränkungen schon, dass bei mancher Entwicklung der Krieg mit Pate steht, bisweilen auch im Sinne einer „schöpferischen Zerstörung“ [5] – um letztlich und hoffentlich an den Logos zu übergeben, der in seiner wissenschaftlichen Ausfaltung, Achtsamkeit und Friedensorientierung dann erst die Tore in eine bessere Zukunft öffnet.

 
  • Literatur

  • 1 Levy BS, Sidel VW. Adverse health consequences of the Iraq War. Lancet 2013; 381: 949-958
  • 2 Rosenberg MB. Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens. Junfermann; Paderborn: 2012
  • 3 Fisher R, Ury W, Patton B et al. Das Harvard-Konzept: Der Klassiker der Verhandlungstechnik. Campus Verlag; Frankfurt: 2013
  • 4 Kabat-Zinn J. Achtsamkeit für Anfänger. Arbor; Freiburg: 2013
  • 5 Schumpeter JA. Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. UTB; Stuttgart: 2005