PPH 2013; 19(03): 124-125
DOI: 10.1055/s-0033-1345694
Szene
Larses lyrische Lebensberatung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie wache ich auf?

Lars Ruppel
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Publication Date:
23 May 2013 (online)

Sie kennen das sicher: Der Wecker weckt, der Regen regnet, die Augenlider liegen, das Bett bettet und der Morgen früht. Obwohl man mehrere Stunden geschlafen hat, ist man doch noch sehr müde. Den eigenen Körper ins Badezimmer zu schleppen, scheint mit größeren Anstrengungen verbunden zu sein als eine Ladung Eulen nach Athen zu tragen und von irgendwo verhöhnt uns ein früher Vogel. Statt sich auf den Tag zu freuen, denkt man leider mit Schrecken an den nächsten Morgen, wenn wieder der Wecker weckt, der Regen regnet,... Sie kennen das sicher.

Müdigkeit begleitet uns unser Leben lang. Mal übermannt sie uns, mal schleicht sie sich heimlich an uns heran und umarmt uns zärtlich. Sie wartet auf Momente der Schwäche: In der Schule während der Klassenarbeit, während einer spannenden Fortbildung, während der täglichen Arbeit oder beim Essen. Das Schlimme ist, dass meist weder die gesellschaftliche Akzeptanz noch ein gemütlicher Rückzugsraum für einen kleinen Zwischenschlaf zur Verfügung stehen.

Und so muss man mit ihr leben. Niemand kann sich ihr ganz entziehen, sogar ihr ärgster Widersacher, der Kaffee und sein getreuer Helfer, die frische Luft, müssen oft genug vor ihr kapitulieren. Ihre ganze Boshaftigkeit wird deutlich, wenn man abends im Bett liegt und nicht einschlafen kann.

Überhaupt ist Müdigkeit nicht mehr das, was sie einmal war. Ich werde neidisch, wenn ich sehe, wie kleine Kinder am helllichten Tage im Kinderwagen oder in den Armen eines Elternteils schlummern. Wenn ich mich tagsüber in den Park auf eine Wiese lege und versuche zu schlafen, kreisen meine Gedanken um noch zu erledigende Aufgaben und um die Angst, während ich schlafe, könnten meine Sachen geklaut werden. Resultat: Ich liege müde wach und höre dem frühen Vogel zu, der mich immer noch verhöhnt.

Wenn ich mit meinem Projekt „Weckworte“ eine Fortbildung gebe und mit Pflegekräften klassische Gedichte speziell für Menschen mit Demenz vortrage, begegnet mir eine Form der Müdigkeit, die ich nicht ganz verstehe. Es gibt Senioren, die ganz aktiv an den Vorträgen teilnehmen und sich über die Gedichte freuen und im nächsten Moment sind sie, so wie sie sitzen, eingeschlafen. Andere werden schlafend in den Raum gebracht und verlassen ihn nach einer Stunde, immer noch schlafend. Ich wünsche mir sehr, dass dies ein Zeichen von Entspannung und eines Gefühls der Sicherheit ist. Sicher bin ich mir jedoch nicht.

Was, wenn es eine Müdigkeit gibt, die so stark ist, dass wir sofort von ihr einschlafen? Viele meiner müdigkeitsgeplagten Mitmenschen halten das sicher für eine tolle Sache. Tatsächlich könnte man die Frage stellen, ob es zu den Segnungen des Alters gehört, wann immer man will, ohne Rechtfertigung, ohne Termindruck und Sorge zu schlafen. Vor einer Müdigkeit aber, die mir gegen meinen Willen meine wache Zeit raubt, habe ich Angst.

In Larses lyrischer Lebensberatung erhalten Sie immer wieder zuverlässige Tipps zur Lösung solcher Probleme durch die Kraft der Poesie. Gegen Müdigkeit empfehle ich morgens und bei akuten Müdigkeitserscheinungen das laute Lesen eines Gedichts von Joachim Ringelnatz:

Morgenwonne

Ich bin so knallvergnügt erwacht.
Ich klatsche meine Hüften.
Das Wasser lockt. Die Seife lacht.
Es dürstet mich nach Lüften.
Ein schmuckes Laken macht einen Knicks
Und gratuliert mir zum Baden.
Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs
Betiteln mich „Euer Gnaden“.
Aus meiner tiefsten Seele zieht
Mit Nasenflügelbeben
Ein ungeheurer Appetit
Nach Frühstück und nach Leben.

Joachim Ringelnatz (1883-1934)

Dieses Gedicht strahlt so viel Energie aus, dass es sich wie von selbst auf den Sprecher und seine Zuhörer überträgt. Diese Beobachtung mache ich bei den Anwendungen für Menschen mit Demenz immer wieder. Das Gedicht entfaltet seine wohltuende Wirkung besonders in Verbindung mit leichter Gymnastik. Öffnen Sie ein Fenster und machen pro Zeile eine Kniebeuge und vergessen Sie dabei das Atmen nicht. Wiederholen Sie die letzte Strophe so oft, bis Sie sie wirklich verinnerlicht haben. Wecken Sie Ihre Mitmenschen durch lautes Klatschen und Rufen der ersten Zeile. Sie werden sehen, Poesie ist ansteckend.

Lesen Sie das nächste Mal:

Wie atme ich durch?

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Sie wollen Lars Ruppel live hören? Und Tipps von ihm erhalten, wie Sie das Gedicht praktisch einsetzen können? Bitte schön:

Wir wünschen viel Hörvergnügen!