Ernährung & Medizin 2013; 28(3): 97
DOI: 10.1055/s-0033-1345486
editorial
Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Editorial

Forschung zum Mikrobiom im Darm – ein bewegliches Ziel
Dirk Haller
Further Information

Publication History

Publication Date:
06 September 2013 (online)

Zoom Image

Der Darm bietet Lebensraum für eine enorme Zahl an Mikroorganismen, und ist das am dichtesten besiedelte mikrobielle Ökosystem, das in der Natur vorkommt. Die Gesamtheit dieser komplexen Mikrobiota, einschließlich deren Gene, wird auch als intestinales Mikrobiom bezeichnet. Die Etablierung neuer Technologien im Bereich der Hochdurchsatzsequenzierung hat die Erforschung dieses Lebensraumes revolutioniert. Je größer allerdings die Fortschritte in der Beschreibung des Mikrobioms von gesunden und erkrankten Bevölkerungsgruppen sind, umso deutlicher wird der Mangel an kausaler Information zur Wirkung des mikrobiellen Ökosystems auf die Gesunderhaltung des Menschen.

Enorme Anstrengungen der beiden Sequenzierungskonsortien aus USA (Human Microbiome Project; HMP) und Europa (Metagenomics of the Human Intestinal Tract; MetaHIT) über die vergangenen 5 Jahre lieferten hochinteressante Einblicke in die taxonomische und funktionelle Welt des intestinalen Mikrobioms. Zahlreiche Studien verdeutlichen den enormen Einfluss von Lebensraum (Afrika vs. Europa), Alter, Ernährung oder Erkrankungszustand (Adipositas, Typ-2-Diabetes, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Infektionen usw.) auf die Vielfalt und Zusammensetzung des mikrobiellen Milieus im Darm. Diese meist im Bevölkerungsquerschnitt angesiedelten Studien liefern erste Hinweise zur Bedeutung der Mikrobiota für den Menschen, sind aber meist assoziativ und lassen daher Fragen zur Kausalität und Signifikanz weitestgehend offen. Eines ist allerdings klar: Die intestinale Mikrobiota ist ein offenes Gleichgewicht mit vielen Variablen und individueller Zusammensetzung (Stamm- bis Speziesebene) – also ein sehr bewegliches Ziel.

Die systematische Anwendung hypothesenfreier Profilierungstechnologien (Metagenomic, Metabolomic usw.) in prospektiven Bevölkerungskohorten mit einer Laufzeit über Jahrzehnte wird zur Klärung der Frage beitragen, wie bedeutsam das Ökosystem als Ganzes für die Gesundheit des Menschen ist. Parallel dazu muss die Wissenschaft wieder mehr Wert auf die Klärung spezifischer Fragen zur Funktionalität einzelner Mikroorganismen im Kontext der komplexen Mikrobiota legen. Dazu gehören auch die Identifizierung, Kultivierung und Sequenzierung bisher schwer zugänglicher bzw. unbekannter Mikroorganismen. Mit Blick auf die Charakterisierung von Mechanismen zur wechselseitigen Beeinflussung von Mikroben und Wirt, sind Modellsysteme von großer Bedeutung. Die Kolonisierung keimfreier (steriler) Tiere, u. a. auch mit Relevanz für Krankheitsprozesse, mit definierten Mikroorganismen, ist ein wertvolles Hilfsmittel, die Mikroben-Wirt-Interaktionen zu studieren. Diese Methoden sind aufwendig und teuer, was den Bedarf an gezielter Forschungsförderung enorm erhöht.

Wissend um die Bedeutung von Verständnis jenseits deskriptiver Daten und Assoziationen, hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein neues Schwerpunktprogramm (SPP 1656; www.intestinal-microbiota.de) mit einem Volumen bis 16 Mio. Euro auf den Weg gebracht, unter dessen Flagge seit Juni diesen Jahres 22 Arbeitsgruppen aus der Mikrobiologie, Immunologie, Gastroenterologie und Ernährungswissenschaft in Deutschland zum Aspekt „Intestinale Mikrobiota – ein Ökosystem an der Schnittstelle zwischen Immunhomöostase und Entzündung“ gemeinsam arbeiten. Ziel ist es, die Funktionalität von Mikroorganismen im Kontext eines komplexen Ökosystems auf physiologische und krankheitsrelevante Prozesse zu untersuchen.

Ring frei für eine post-metagenomische Ära in der Mikrobiomforschung!

Prof. Dr. Dirk Haller