Laryngorhinootologie 2013; 92(05): 341-343
DOI: 10.1055/s-0033-1337924
Der interessante Fall
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Unklare Lippenschwellung und Gingivahyperplasie bei einem 11-jährigen Jungen

J. Ritter
,
M. Kurzai
,
H.-J. Mentzel
,
O. Guntinas-Lichius
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Publication History

Publication Date:
30 April 2013 (online)

Kasuistik

Im Folgenden wird der Fall eines 11 Jahre alten Jungen beschrieben, der sich mit einer seit 4 Monaten permanent bestehenden, schmerzhaften Schwellung der Ober- und Unterlippe und einer progredienten Gingivahyperplasie in der HNO-Klinik des Universitätsklinikums Jena vorstellte. Zudem klagte der Patient über unspezifische abdominelle Beschwerden seit einem halben Jahr mit rezidivierenden Bauchschmerzen und Durchfällen. Anamnestisch bestanden keinerlei Vorerkrankungen und es ergab sich kein Anhalt auf eine allergische Genese. Eine Medikamenteneinnahme wurde ebenfalls negiert. Auch die Familienanamnese war nicht richtungweisend.

Klinisch fanden sich eine Schwellung des Weichgewebes der Unter- und Oberlippe mit rechtsbetonter perioraler Ausbreitung sowie eine Gingivahyperplasie des Oberkiefers

([Abb. 1]). Zudem zeigten sich bei der Ganzkörperuntersuchung ein chronisches perianales Ekzem und eine fibro­m­artig verdickter Mariske.

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Abb. 1 Lippenschwellung und Gingivahyperplasie.

Zunächst wurden anhand verschiedener diagnostischer Verfahren typische Differenzialdiagnosen ausgeschlossen. Das Fehlen rezidivierender Fazialisparesen oder einer Lingua plicata sprachen gegen das Vorliegen eines Melkersson-Rosenthal-Syndroms. Laborchemisch ergaben sich keine Hinweise für ein hereditäres Angioödem (C1-Inhibitor-Aktivität=126%, C1-Inhibitor-Konzentration=0,39 g/l) oder ein infektiöses Geschehen (CRP=4,8 mg/l, Leukozyten=7,8 Gpt/l).

Zur weiteren Einordnung wurden Biopsien der Unterlippe und der Gingiva entnommen. Hier ergab sich das Vorliegen einer chronischen und floriden Entzündung mit vaskulitischer Komponente mit mehrkernigen Riesenzellen im Sinne einer Cheilitis granulomatosa.

Zur Abklärung der abdominellen Beschwerden und der perianalen Entzündung erfolgte als Nächstes eine Laboruntersuchung zum Ausschluss einer chronisch- entzündlichen Darmerkrankung. Als sensitiver und spezifischer Labormarker für chronisch- entzündliche Darmerkrankungen wurde hier die Untersuchung von Calprotectin im Stuhl herangezogen. Calprotectin ist ein Bestandteil des Zytoplasmas der Granulozyten und gilt als direktes Maß für die Einwanderung der Granulozyten ins Darmlumen und ist damit ein Marker des zellulären entzündlichen Prozesses. Bei einer starken Entzündung kann der Referenzwert um das 10–20 fache überschritten werden (Summerton CB, Longlands MG, Wiener K et al. Faecal calprotectin: a marker of inflammation throughout the intestinal tract. Eur J Gastroenterol Hepatol 2002; 14: 841–845). Im Falle des 11-jähigen Patienten ergab die laborchemische Untersuchung einen massiv erhöhten Wert von Calprotectin im Stuhl: 1 135 mg/kg Stuhl (Referenzwert: <50 mg/kg Stuhl).

Da sich somit der Verdacht auf das Vor­liegen einer chronisch- entzündlichen Darmerkrankung erhärtete, wurden zur weiteren Diagnostik bildmorphologische Verfahren eingesetzt. In der Abdomensonografie konnten deutlich wandverdickte distale Dünndarmschlingen sowie ein verdicktes Ileum verifiziert werden. Oval konfigurierte, mit 2 cm Länge entzündlich vergrößerte Lymphknoten wurden lokoregional insbesondere im rechten Unterbauch beobachtet. In der MR-­Sellink- Untersuchung waren weiterhin ein Kontrastmittelenhancement und eine Wandverdickung im terminalen und ­präterminalen Ileum mit begleitender Lymphknotenvergrößerung sichtbar ([Abb. 2]). Im Folgenden wurden in der Abteilung für Gastroenterologie des Universitätsklinikums Jena eine Ösophagogastroduodenoskopie und eine Ileokoloskopie durchgeführt. Hier zeigte sich eine entzündliche Beteiligung des Rektosigmoids und der Ileozökalklappe. Ausgeprägte mesenteriale Reaktionen wurden nicht beobachtet; ebenso keine Fisteln oder Abszedierungen.

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Abb. 2 a und b Sonografie des wandverdickten Darmabschnitts. Die Pfeile markieren die verdickt und starr imponierende terminale Ileumschlinge a und die lokoregionale Lymphadenitis b mit einem Lymphknoten von 20×9 mm sowie weiteren, kleineren Lymphknoten. c MR- Sellink mit Bildausschnitten in axialer Orientierung. Der Pfeil markiert die Wandverdickungen im T2- Bild.

Die histologische Aufarbeitung der Biopsien aus Duodenum, Magen, Colon und Rektum ergab entzündliche Veränderungen im Sinne einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung vom Typ eines Morbus Crohn. Eine Übersicht zu den diagnostischen Schritten und Befunden ist in [Abb. 3] zusammengestellt.

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Abb. 3 Diagnostisches Vorgehen bei unklarer Lippenschwellung.

In Zusammenschau der Befunde wurde die Diagnose einer Cheilitis granulomatosa als intestinal-orale Manifestation eines Morbus Crohn gestellt. Daraufhin wurde eine kontinuierliche Therapie mit Prednisolon in absteigender Dosierung mit einer Initialdosis von 60 mg täglich begonnen. Hierunter kam es zu einem sichtbaren Rückgang der Schwellungen im Bereich der Mundschleimhaut und der Gingiva ([Abb. 4]). Der Patient verbleibt zur Nachsorge und weiteren Therapie in der Sektion Gastroenterologie der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Jena.

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Abb. 4 Rückgang der Schwellungen im Bereich der Mundschleimhaut und der Gingiva unter Prednisolontherapie.