Gesundheitswesen 2013; 75 - V54
DOI: 10.1055/s-0033-1337505

Mundgesundheit bei Menschen mit Behinderung

A Schulte 1
  • 1Universitätsklinikum Heidelberg, Poliklinik für Zahnerhaltungskunde, Heidelberg

Im Dezember 2006 verabschiedeten die Vereinten Nationen eine Konvention zu den Rechten von Personen mit Behinderungen. Der Paragraph 25 dieser Konvention befasst sich mit Fragen zur Gesundheit und Gesundheitsförderung. In ihr werden die Staaten aufgefordert, Menschen mit Behinderungen dieselbe Gesundheitsversorgung zur Verfügung zu stellen wie Menschen ohne Behinderungen. Darüber hinaus sollen die Gesundheitsversorgung und die Prävention spezifische Elemente enthalten, die auf Grund der speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind. Ausdrücklich wird im §25 darauf hingewiesen, dass für diese Bevölkerungsgruppe auch populationsbezogene Programme bereitgestellt werden sollen. Ein gesetzlicher Anspruch für bezahlte zahnärztliche Präventionsleistungen im Rahmen der Individual- und Gruppenprophylaxe besteht in Deutschland derzeit nur für alle gesetzlich versicherten Kinder und Jugendlichen im Alter von 6 bis 17 Jahren.

Spezifische Präventionsprogramme können nur etabliert werden bzw. der Behandlungsbedarf kann nur überprüft werden, wenn regelmäßig aktualisierte Daten zur Mundgesundheit und zum zahnärztlichen Behandlungsbedarf zur Verfügung stehen. In den letzen Jahren wurden in Deutschland nur wenige Daten zur Mundgesundheit von Menschen mit Behinderungen erhoben. Eine Möglichkeit, diese Daten zu erheben, bieten die Special-Olympics-Veranstaltungen für Menschen mit geistiger Behinderung, auf denen sich die Athleten im Rahmen des Special-Smiles-Programms auf freiwilliger Basis zahnärztlich untersuchen lassen können. Seit 2008 werden die zahnärztlichen Befunde der Athleten mit geistiger Behinderung, die bei den nationalen Special Olympics erhoben werden, wissenschaftlich ausgewertet (Bissar et al. 2010; Schulte et al. 2011). Im Vergleich zu den 12jährigen Kindern der Allgemeinbevölkerung wurde bei den 12- und 13-jährigen Kindern mit geistiger Behinderung im Mittel immer ein höherer DMFT-Index, eine höhere Zahl an kariösen Zähnen, eine höhere Zahl an extrahierten Zähnen und eine niedrigere Zahl an fissurenversiegelten Zähnen gefunden. Bei den 35 – 44jährigen Athleten mit geistiger Behinderung fehlten in allen Untersuchungen fast doppelt so viele Zähne wie bei den 35 – 44jährigen der Allgemeinbevölkerung. Bei der Bewertung dieser Daten muss berücksichtigt werden, dass die bei den Special Olympics untersuchten Personen mit geistiger Behinderung in der Lage waren, an einer Sportveranstaltung teilzunehmen und nicht als repräsentativ für die Gesamtgruppe der Menschen mit geistiger Behinderung gelten können. Insofern überrascht es nicht, dass die mittlere Zahl der fehlenden Zähne bei 35 – 44jährigen Personen, die in einer Werkstatt für Menschen mit geistiger Behinderung untersucht wurden (Schulte et al. 2012) deutlich höher war als bei den Special Olympics Teilnehmern derselben Altersgruppe. Aus diesen Untersuchungen lassen sich folgende Schlussfolgerungen in Bezug auf Menschen mit (geistiger) Behinderung ziehen: 1. Wissenschaftliche Untersuchungen zur Mundgesundheit müssen in regelmäßigen Abständen in verschiedenen Altersgruppen durchgeführt werden. 2. Die Kariesprävalenz und die Zahl der extrahierten Zähne muss deutlich gesenkt werden. Hierfür wird dringend empfohlen, folgende Maßnahmen sehr bald vorzunehmen:

a) Einführung populationsbezogener zahnmedizinischer Präventionsprogramme für alle Altersgruppen eingeführt werden; b) Übernahme zahnärztlich-präventiver Leistungen für alle Altersgruppen durch die gesetzlichen und privaten Krankenkassen; c) Durchführung von regelmäßigen zahnärztlichen Untersuchungen im Sinne der Früherkennung von oralen Erkrankungen; d) Durchführung befundgerechter Frühbehandlungen; e) Entwicklung spezifischer endodontologischer Konzepte, um Zähne mit irreversibler Pulpitis oder Pulpanekrose erhalten zu können; f) Entwicklung spezifischer parodontologischer Konzepte, um parodontal geschädigte Zähne erhalten zu können; g) Bereitstellung eines speziellen Budgets zur Finanzierung der o.a. speziellen und aufwändigen Maßnahmen im Präventions- und Therapiebereich.