Klinische Neurophysiologie 2013; 44 - P48
DOI: 10.1055/s-0033-1337189

Neuronale Netzwerkinstabilität als Ursache einer Ultra-rapid-cycling bipolar affektiven Störung bei V.a. Temporallappenepilepsie auf dem Boden einer Hippocampusläsion?

A Schläger 1, K Winter 1, G Leonhardt 1, D Altenmüller 1, DO van Calker 1, M Lettau 1, L Tebartz van Elst 1
  • 1Universitätsklinikum Freiburg, Psychiatrie und Psychotherapie, Freiburg im Breisgau, Deutschland

Wir berichten den Fall eines 27-jährigen Patienten, der seit der Jugend eine affektive Störung im Sinne eines Ultra-Rapid-Cycling mit täglich mehrfachen depressiven Stimmungseinbrüchen und hypomanen Zustandsbildern entwickelte. Mehrere Jahre später traten Sekunden dauernde, z.T. bewusst provozierbare Metamorphopsien, ca. 20 minütige Episoden mit extremen Geschmacks- und Geruchsempfindungen, retrograde Amnesien z.T. für Stunden und schwere Konzentrationsstörungen hinzu.

Kernspintomographisch zeigte sich eine linksseitige Hippocampusläsion, im fMRT zeigte sich unter Provokation der Metamorphopsien eine Aktivierung im Bereich des visuospatialen Aufmerksamkeitsnetzwerkes links frontotemporoparietal. Im Video-EEG-Monitoring fanden sich eine Verlangsamung und singuläre sharp waves links temporal (T3), steile Transienten links parieto-okzipital (Cp5, P3) und häufige bifrontale Delta-Paroxysmen. Während der mehrfach aufgezeichneten Stimmungsschwankungen und Metamorphopsien zeigten sich jedoch keine spezifischen EEG-Veränderungen. Die affektive Symptomatik war durch zahlreiche medikamentöse Therapieversuche (14 Substanzen, darunter Lithium, Oxcarbazepin, Lamotrigin, mehrere Antidepressiva, zahlreiche Neuroleptika) nicht relevant beeinflusst worden, allerdings kam es unter Therapie mit Valproat (Spiegel 90 mg/l) bis zur Publikation dieses Abstracts zu einem Sistieren der Metamorphopsien und einer diskreten affektiven Stabilisierung.

Wir stellen die Hypothese auf, dass die o.a. episodischen Geschmacks- und Geruchsempfindungen und möglicherweise auch die Amnesien Folge epileptischer Aktivität aufgrund einer Hippocampusläsion sind. Die darüber hinaus bestehende neuropsychiatrische Symptomatik im Sinne von Metamorphopsien und der Ultra-rapid-cycling bipolar affektiven Störung können unter Zugrundelegung des Oberflächen-EEGs nicht als epileptisch eingeordnet werden. Kritisch ist anzumerken, dass die diffusen und fokalen EEG-Befunde auch durch die Therapie mit Oxcarbazepin im Hochdosisberereich (3300 mg, 41 µg/ml) und Lithium (0,8 mmol/l) bedingt sein können.

Unsere Hypothese stützt sich auf das LANI-Modell („local area network inhibition“, Tebartz van Elst et al. 2011), das diese neuropsychiatrischen Symptome als paraepileptische Phänome versteht. Dabei wird vor dem Hintergrund der kolokalisierenden EEG Veränderungen und fMRT Aktivierung einerseits und der Remission der Metamorphospien durch Valproat andererseits die Hypothese aufgestellt, dass neuronale Netzwerkinstabilitäten und exzitatorisch getriggerte lokale Hyperinhibitionen eine entscheidende Rolle spielen. Die Erwägung eines solchen Pathomechanismus, der für unterschiedliche neuropsychiatrische Störungen verantwortlich sein könnte, stellt eine große Herausforderung für die klinische und neurophysiologische Diagnostik dar, hat aber möglicherweise weit reichende therapeutische Konsequenzen.

Eine Wiederholung des Video-EEG-Monitorings nach Absetzen von Lithium und Oxcarbazepin zum Ausschluss der Medikamenteffekte mit bis zum Kongress im März 2013 vorliegender Auswertung ist geplant.