Z Sex Forsch 2013; 26(2): 185-187
DOI: 10.1055/s-0033-1335608
Debatte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Liquid Gender

Volkmar Sigusch
a   Praxisklinik Vitalicum
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

Publication Date:
24 June 2013 (online)

Meinen Beitrag zur gegenwärtigen Debatte um die medizin- und rechtspolitische Situation Transsexueller und insbesondere um das Transsexuellengesetz (TSG) kann ich ganz kurz halten. Denn ich habe in dieser Zeitschrift vor 23 Jahren selbstkritische Plädoyers für die „Entpathologisierung“ und „Enttotalisierung“ der Transsexuellen gehalten, indem ich den „nosomorphen Blick“ der eigenen Berufsgruppe, der immer nur Krankes sieht, im Einzelnen kritisierte. Mein aus der damaligen Welt vollständig herausfallender und wohl auch deshalb weitgehend übersehener Wunsch war – ich zitiere wörtlich:

„daß der Gesetzgeber allen (volljährigen) Menschen freistellt, über die eigenen Vornamen und die eigene Geschlechtszugehörigkeit selbst zu entscheiden – ohne Genehmigungs- und Gerichtsverfahren und ohne medizinische Behandlungen“ (Sigusch 1991: 337 und 1992a/1995a: 135 f.).

Äußerungen dieser Art brachten mir damals viel Ärger mit lieben ärztlichen Kollegen ein, von denen sich mancher heute, Jahrzehnte später, als Vorreiter der Transsexuellen-Befreiung geriert.

Nicht verschwiegen sei, dass ich zwischen 1973 und 1990, einerseits zusammen mit Eberhard Schorsch das TSG im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat als eine angesichts der damaligen kulturell-rechtlichen Verhältnisse für die Patienten hilfreiche Anerkennung verteidigt habe (Sigusch 1980) und dass ich andererseits, verantwortlich für eine Sexualmedizinische Ambulanz, zusammen mit Bernd Meyenburg und Reimut Reiche aus Angst vor Fehldiagnosen und Rückumwandlungsbegehren ein penibles Untersuchungs- und Behandlungsprogramm aufgestellt habe (vgl. Sigusch et al. 1978, 1979).

Zur grundsätzlichen Revision unseres peniblen Untersuchungs- und Behandlungsprogramms, die ich auch persönlich den Betroffenen auf der 7. Transidentitas-Fachtagung am 25. April 1992 in Frankfurt am Main vorgetragen habe, schrieb ich vor mehr als zwei Jahrzehnten in dieser Zeitschrift: „Das Verrückte am Transsexualismus ist, daß die Transsexuellen nicht ver­rückt sind. Ihre seelische Verfaßtheit ist kein ‚Irrtum‘ der Natur, sondern ein ‚Kunstwerk‘ des Menschen“ (Sigusch 1991: 331). Und ich fuhr fort: „Ist der Wunsch, aus wel­chen Gründen auch immer, fixiert, haben wir dem Menschen, der damit zu leben hat, jene Achtung und jenes Verständnis entgegenzubringen, die wir dem persönlichen Schicksal insbesondere dann nicht versagen möchten, wenn eine körperliche Erkrankung zu ertragen ist. Wenn wir uns ein letztes Mal vergegenwärtigen, daß es einen transsexuellogenen Medizinbetrieb gibt, dem wir selber angehören, daß wir aber andererseits nicht zuletzt deshalb weiterhin Patienten mit dem Wunsch nach Geschlechtsumwandlung beraten und behandeln, weil wir nicht wollen, daß Inkompetente diesen Wunsch or­ganisieren, dann sehen wir, daß den Widersprüchen nicht ausgewichen werden kann“ (ebd.: 332).

Nach einer ausführlichen Kritik der damaligen Transsexualismus‑Theo­rien hieß es abschließend: „Wenn wir ernsthaft entpatholo­gisieren wollen, sollten wir unseren ordnenden Heilungswillen dämpfen, der dem genetischen Grundgesetz ‚Mann oder Frau‘ und dem sexuellen Grundgesetz ‚Mann und Frau‘ entsprungen, geschlechtliche und sexuelle Transgressionen so schwer ertragen kann (wie ich am Beispiel der Homosexualität angedeutet habe); sollten wir Andersartigkeiten, die wir nie ganz verstehen werden, als Lebensnotwendigkeiten respektieren; sollten wir die Illusion auf­geben, wir könnten eines Tages die ‚Ursache‘ der ‚Krankheit‘ Transsexua­lismus [...] finden und damit eine ‚kausale Therapie‘, gar eine ‚ideale und endgültige Lösung des Problems‘ (wie ich gerade in einer Dok­torarbeit las); sollten wir blinde Befürwortung der Geschlechtsumwand­lungsoperation wie blinde Ablehnung als zwei Seiten einer gesplitteten Rationalisierung begreifen; sollten wir aufhören, einen unauffälligen Menschen schlechthin als ‚gesund‘, einen befremdlichen aber als ‚krank‘ einzusortie­ren, obgleich er seelisch kreativ ist und lebenstüchtig; [...] sollten wir den Wunsch nach Geschlechtswechsel als transintelligibel begreifen und das sub­jektive Leiden der sogenannten Transsexuellen als einen Niederschlag objek­tiver Negativität, die jeder Therapie entzogen ist. Kurzum, wir sollten theoretisch noch einmal von vorne anfangen“ (ebd.: 332 f.). Von vorne anfangen, auch weil wir uns bisher mit Freud die Verknüpfung von Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität als eine zu innige vorgestellt haben. „Es schien uns immer wieder, als bringe der Körper die Geschlechtsidentität mit wie eine Mitgift. Durch die Tatsache des Transsexualismus und durch die Zunahme kulturel­ler Geschlechtsdysphorie sind wir gehalten, die Verknüpfung von Körperge­schlecht und Identität in unseren Gedanken noch stärker zu lockern. Eine große Hilfe ist dabei der kulturelle Feminismus“ (ebd.; zu den Revisionen vgl. u. a. auch Sigusch 1992b, 1994, 1995b, 1995c, 1997, 1999).

Überblicke ich die beinahe 50 Jahre, in denen mir transsexuelle Menschen, leider überwiegend in meiner Eigenschaft als Arzt oder Gutachter, begegnet sind, so ergibt sich für mich allein phänomenologisch eine erhebliche Differenz. Früher waren Transsexuelle nicht selten eher schrill, fordernd und offenbar ihrer Sache sicher; heute erscheinen sie eher dezent, fragend und ambigue. Als ich unser erstes Behandlungsprogramm revidierte, führte ich die Ausdrücke „Zissexualismus“ und „Zissexuelle“ ein, um die geschlechtseuphorische Mehr­heit, bei der Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität fraglos und scheinbar natural zusammenfallen, in jenes falbe Licht zu setzen, in dem nosomorpher Blick und klini­scher Jargon die geschlechtsdysphorische Minderheit, namentlich die Transsexuellen, erkennen zu können glaubt.

Heute habe ich den Ausdruck „Liquid Gender“ eingeführt (Sigusch 2013, im Druck), um dem kulturellen Wandel auch semantisch gerecht zu werden. Denn seit einiger Zeit erlebe ich durchgehend Ratsuchende, die zwischen den beiden großen Kulturgeschlechtern hin und her gleiten, wobei sie in beiden Rollen überzeugen. Da heute eine operative Geschlechtsumwandlung möglich ist, muss sie nicht mehr gegen alle Zweifel auf der Stelle erreicht werden. Ich denke, wenn alle Entscheidungen rechtlich noch eindeutiger den Einzelnen freigestellt würden, lebten noch mehr Menschen ohne irreversible medizinische Eingriffe ein Liquid Gender. Hoffen wir also auf weitere Liberalisierungen im Zuge der neosexuellen Revolution. Zu erreichen sind sie sicher nur, wenn die Betroffenen sich weiterhin organisieren und nicht aufhören, ihr geschlechtliches Selbstbestimmungsrecht einzufordern. Die Herrschaftszeit von „entweder Mann oder Frau“ sowie von „ein Mann und eine Frau“ neigt sich jedenfalls bei uns ihrem glanzlosen Ende entgegen.