Zeitschrift für Klassische Homöopathie 2013; 57(2): 103-104
DOI: 10.1055/s-0033-1334365
Materia medica
© Karl F. Haug Verlag MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Verifikationen, Falsifikationen, klinische Symptome

Carl Rudolf Klinkenberg
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Publication Date:
12 June 2013 (online)

MS-Schub − Menyanthes

Vorgeschichte

Die 19-jährige Vera H.[1] kommt am 6.7.2012 wegen eines MS-Schubes. Bis vor 5 Tagen war sie im Krankenhaus und wurde dort hochdosiert mit Kortison behandelt. Ihre Symptome hatten sich trotz Kortison weiter verschlimmert:

Sie hat ein Schweregefühl im ganzen Körper, eine Schwere, die sie herunterzieht, als hätte sie ein Korsett am Oberkörper. Jede Bewegung, bei der sie sich aufrichten muss, strengt sie ungemein an. Sie kann deshalb viele Tätigkeiten nicht machen, weil ihr Körper sie nach unten zieht und sie sich kaum aufrecht halten kann. Im Liegen spürt sie die Schwere nicht. Außerdem hat sie am Bauch eine Empfindung wie eingeschnürt, im Brustbereich das Gefühl, es würde ein Gewicht auf ihr liegen. Hände und Beine sind kribbelig und eingeschlafen. Das Gehen fällt ihr von der Koordination her sehr schwer. Ihre ganze rechte Körperhälfte ist schmerzhaft angespannt, so als hätte sie eine höhere Körperspannung; das spürt sie vor allem rechtsseitig an Hand und Wade.

Wegen der Schmerzen hatte sie vor ein paar Stunden eine Tablette Ibuprofen genommen. Daraufhin hatte ihr ganzer Körper gezuckt, gezittert und gekrampft − ihre Beine haben gezittert, die Arme gekrampft, der ganze Oberkörper hat sich nach unten hin verkrampft, sodass Ihre Beine unwillkürlich zum Oberkörper hochgezogen wurden.

Vera H. hat seit dem Schub permanent Zuckungen in der rechten Gesichtshälfte, am Auge, der Wange und zwischen Mund und Nase. In den letzten Tagen hat sie weniger Durst als sonst.

Nach Repertorisation mit Bönninghausens Therapeutischem Taschenbuch [1] gebe ich der Patientin am 6.7. ein Kügelchen Phosphorus C 200 (Gudjons) [Schweregefühl (Phos. 4-wertig) / Zusammen­schnüren äußerer Teile (2-w.) / Spannen äußerer Teile (4-w.) / klonische Krämpfe (3-w.) / Zittern (3-w.) / Zuckungen (3-w.) / Gesicht rechts (3-w.) / Durstlosigkeit (2-w.)].

Am 8., 12. und 14.7. wiederhole ich die Gabe − Vera H. löst ein Kügelchen Phos. auf 2 Esslöffeln Wasser auf, nimmt einen Esslöffel der Flüssigkeit und lässt sie ca. 1 Minute im Mund einwirken. Daraufhin bessern sich das Schweregefühl und das Gehen innerhalb von 4 Tagen deutlich um ca. 80 %. Auch das eingeschnürte Gefühl im Bauchbereich wird deutlich weniger. Das Spannungsgefühl hat sie nur noch leicht an der rechten Hand. Sie hat kaum noch Kribbeln, der Durst ist normal. Nur die Zuckungen im Gesicht bleiben unvermindert stark:

Sie hat Zuckungen überall in der rechten Gesichtshälfte − am und über dem Auge, unter den Augenbrauen, an Ober- und Unterlidern, an der Wange, neben der Nase zur Wange hin, zwischen Oberlippe und Nase und sogar um das Kinn herum. Am meisten stört sie das Zucken am Auge. Diese Muskelzuckungen sind schnell (faszikulär), sie sind ständig anhaltend und verstärken sich etwas im Laufe des Tages − besonders abends sind sie deutlich schlimmer. Die Lippe ist auf der rechten Seite leicht nach oben gezogen, das rechte Oberlid hängt und verengt die Augenöffnung. Das „sieht blöd aus“ und stört sie sehr.

Von der ursprünglichen Schubsymptomatik sind noch etwas Schweregefühl und das Gefühl an der Brust, als würde ein Gewicht auf ihr liegen übrig geblieben. Ihre Gehfähigkeit ist wechselnd − an einem Tag ist sie gut, an einem anderen schlechter. Vera H. ist mit dem bisherigen Verlauf sehr zufrieden, denn bei früheren Schüben waren die Beschwerden auch unter Kortison nicht so schnell zurückgegangen.

Am meisten Angst machen ihr die Zuckungen: Sie hat im Internet recherchiert und mehrere Berichte von MS-Patienten gefunden, die nach einem Schub monatelang Zuckungen hatten. Sie hat Angst, dass auch ihr das so ergeht. Ein Neurologe erklärt mir, dass Faszikulationen bei MS selten sind, aber immer wieder vorkommen.


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Mittelgabe

Menyanthes C 30 2 Globuli (Gudjons).


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Begründung der Arzneiwahl

Repertorisation mit dem Therapeutischen Taschenbuch:

  • Zuckungen: Meny.

  • Muskeln, Zuckungen: Meny.

  • Gesicht, rechts: Meny.

  • Schweregefühl äußerer Teile: Meny.

  • Spannen äußerer Teile: Meny.

  • Drücken wie von einer Last: Meny.

  • Durstlosigkeit: MENY.

  • < abends: MENY.

Materia-medica-Vergleich

Allgemeines: Muskelzucken hier und da, an kleinen Stellen; sichtbares Zucken. Angesicht: Sichtbares Zucken der Muskeln, bes. auf der r. Seite, und mehr in der Ruhe als im Gehen [3: 113, 115].

Painless twitching of the muscles in different parts (face, tigh), principally when at rest [4].

Spannung: in der Nasenwurzel; in Armen, Händen, Fingern; in der Haut [2].

Brust: Engbrüstigkeit, mit ...Zusammenpressen rings um die Brust. ...Zusammenpressen von beiden Brustseiten.

Kopfschmerzen: Schwere des Kopfes. Drückende Kopfschmerzen: ... von oben herabpressend...; wie von einer Last, auf das Gehirn. Zusammenpressen des Kopfes von beiden Seiten.

Rücken: Schweregefühl in den Muskeln.

[3: 113−117, Hervorh. in Fettschrift v. V.]


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Verlauf

Ich gebe Vera am 18.7. 2 Globuli Menyanthes C 30. Zwei Tage nach der Mitteleinnahme ist ihre Lippe auf der rechten Seite weniger nach oben gezogen, das rechte Augenlid hängt nicht mehr so stark, sodass das Auge wieder fast offen ist. Das Gefühl, als würde eine Last auf die Brust drücken, hat sich gebessert. Die Zuckungen sind unverändert.

Ich gebe Meny. C 30 nun 2-mal im Abstand von 3 Tagen, dann jeden zweiten Tag jeweils ein Globulus aufgelöst in 2 Esslöffeln Wasser, wovon sie einen Esslöffel abends nimmt.

Am 23.7. sind Schweregefühl und Kribbeln verschwunden. Sie wird bei Anstrengung nicht mehr so schnell müde. Auch die übrigen Symptome bessern sich sichtbar. Bis zum 2.8. treten die Zuckungen nur noch abends am rechten Auge auf, wenn sie tagsüber viel „Stress“ hatte; eine Woche später sind sie vollständig verschwunden.

Nachbeobachtung: 9 Monate.

Im Nachhinein war Meny. wahrscheinlich von Beginn an das passende Mittel in diesem Krankheitsfall.


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Verifizierte Symptome

  • Zuckungen bei Multipler Sklerose

  • Zuckungen in der rechten Gesichtshälfte < abends

  • Lokalisation: Gesicht, rechts


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  • Literatur

  • 01 Bönninghausen CM v. Bönninghausens Therapeutisches Taschenbuch, Revidierte Ausgabe. Hrsg. K.-H. Gypser. 1. Aufl. Stuttgart: Sonntag; 2000
  • 02 Clarke JH. Der Neue Clarke. Übers. P. Vint. Bielefeld: Silvia Stefanovic; 1990: 3320
  • 03 Jahr GHG. Ausführlicher Symptomen-Kodex der homöopathischen Arzneimittellehre. Nachdruck ohne Jahrgang. Hamburg: Verlag für homöopathische Literatur B. v. d. Lieth; (11848 Leipzig).
  • 04 Lippe Av. Text Book Of Materia Medica. Reprint Edition. New Dehli: B. Jain Publishers; 2001. 402 (11865 Philadelphia).