Fortschr Neurol Psychiatr 2013; 81(3): 162-168
DOI: 10.1055/s-0032-1330629
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die einzige „panoptische“ Anstalt Deutschlands: Eine Würdigung der „Kreis-Irrenanstalt Erlangen“

Germany’s Unique Panoptical Asylum – An Appreciation of the First Bavarian Mental Home in Erlangen
B. Braun
,
J. Kornhuber
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Publication Date:
20 March 2013 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund: Von der 1846 eröffneten „Kreis-Irrenanstalt Erlangen“ sind aktuell noch zwei Gebäude erhalten. Durch deren Abriss soll Bauplatz für ein modernes „Translational Research Center“ (TRC) entstehen. Vor diesem Hintergrund möchten wir an die Entstehungsgeschichte der ersten psychiatrischen Anstalt Bayerns erinnern. Als deutschlandweite Einzigartigkeit soll das anstaltsarchitektonisch realisierte panoptische Bauprinzip gewürdigt werden.

Methode: Relevante Primärquellen und Sekundärliteratur sowie ausgewählte Abbildungen wurden ausgewertet und vor dem Hintergrund der psychiatriehistorischen Entwicklung interpretiert.

Ergebnisse: Außerhalb Großbritanniens wurde das panoptische System bzgl. Anstaltsbaus in Frankreich, Italien und Deutschland jeweils nur einmal realisiert, nämlich in Avignon, Genua und Erlangen. Der panoptische Architekturtypus ermöglichte eine Patientenbeaufsichtigung mit minimalem Aufwand an Personal: Von zentralem Beobachtungszimmer aus konnte die gesamte Station übersehen werden. Dank der fachkundigen Beratung des Arztes Johann Michael Leupoldt (1794 – 1874) konnte das Projekt der ersten bayerischen Heil- und Pflegeanstalt binnen zwölf Jahren realisiert werden.

Diskussion: Obwohl seit 1818 die H-Form einer Anstalt als architektonisch vollkommener beurteilt wurde, zog man in Erlangen einen kreuzförmigen Plan vor. Ob finanzielle Engpässe hierzu nötigten, bleibt im Spekulativen. Weder die Aktenlage noch Leupoldts Selbstbiografie geben Aufschluss hierüber.

Schlussfolgerung: Mag das realisierte TRC-Bauprojekt ein Dokument für bislang deutschlandweit singulären medizinischen Fortschritt darstellen, so gilt es umso mehr, die „Kreis-Irrenanstalt Erlangen“ als einen Markstein in der Entwicklung psychiatrischer Architektur zu würdigen.

Abstract

Introduction: There are only two edifices left that represent one of the most impressive cultural monuments of mental homes in Middle Europe. Government and institutions are removing these historical buildings to establish a modern “Translational Research Centre”. Our objective is to illustrate the significance of the asylum in the history of psychiatric architecture.

Methods: In the context of the history of psychiatry we analysed and interpreted relevant primary sources, secondary literature and selected illustrations.

Results: Several panoptical asylums were built in Great Britain. In France, Italy and Germany, a unique example was realised. The entire ward could be checked from a central room. This ensured the optimal surveillance of the patients and enabled the minimisation of staff. In contrast to the vicinal emergent industrial cities Erlangen disposed of enough building ground. There, Johann Michael Leupoldt (1794 – 1874) gave lectures dealing only with psychiatry. Thanks to his advice, the first Bavarian mental home was completed within only 12 years. The cruciform floor plan was supplemented by cross buildings. This constituted a relevant modification of the panoptical system.

Discussion: Although the “H-design” has been evaluated as more adequate, the obsolete architectural “concept of rays” was chosen for the asylum in Erlangen. Did financial distress play a decisive role? Neither the files nor Leupoldt’s autobiography take a firm stand on this point.

Conclusion: As the TRC-project may serve as a document for future medical progress, it is important to remember the “Kreis-Irrenanstalt Erlangen” as a milestone in the evolution of psychiatric architecture.

 
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