Fortschr Neurol Psychiatr 2013; 81(2): 67-68
DOI: 10.1055/s-0032-1330536
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Teilhabe und neurologische Erkrankung

Inclusion with Neurological Disorders
C. W. Wallesch
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Publication Date:
14 February 2013 (online)

Das vorliegende Heft der Fortschritte enthält eine Übersicht, die sich mit dem Erwerbsstatus von Multiple-Sklerose-Betroffenen befasst [1]. Sie verdeutlicht, dass Erwerbstätigkeit und Lebensqualität unabhängig vom Behinderungsstatus miteinander korrelieren [2], und zeigt auf, welche Hindernisse für eine Erwerbstätigkeit der überwiegend noch jungen Betroffenen bestehen. Auch nach Schlaganfall und traumatischer Hirnschädigung bestehen Zusammenhänge zwischen Erwerbstätigkeit und Lebensqualität [3] [4]. Bei allen drei Erkrankungen geht schwerere Behinderung häufig mit Aufgabe der Erwerbstätigkeit einher. MS-Betroffene berichten, dass flexible Arbeitszeiten, Ruhepausen und Einfühlungsvermögen von Kollegen und Vorgesetzten entscheidend für die Weiterführung der Berufstätigkeit sind. Im Vergleich dazu spielen technische Anpassungen am Arbeitsplatz eine untergeordnete Rolle [1] [5]. Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels sollten alle Möglichkeiten genutzt werden, Menschen mit Behinderung in Beschäftigungsverhältnissen des ersten Arbeitsmarkts zu halten [1]. Die Autoren nennen das Gesetz zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement und Fördermaßnahmen der Integrationsämter als Ansätze für eine Intervention [1]. Leider ist die Vermittlung von Kenntnissen über Unterstützungsangebote mangelhaft, Betroffene und ihre Angehörigen sind auf Eigeninitiative und eigene Recherchen angewiesen [6].

Am 21.12.2008 hat die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in nationalstaatliches Recht umgesetzt [7]. Dieses räumt Menschen mit Behinderung positive Rechte ein. In Deutschland hatte die Behindertenrechtskonvention bislang vor allem Auswirkungen auf die Aufnahme auch schwer behinderter Kinder in Regelschulen, was zu durchaus kritischen Diskussionen führte. Das Gesetz reicht aber weiter, u. a.:

  • sollen Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wen sie leben, und nicht verpflichtet sein, in besonderen Wohnformen zu leben (Artikel 19a),

  • sollen Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist (Artikel 19b),

  • sollen Menschen mit Behinderungen das Recht auf die Möglichkeit haben, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen frei zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird (Artikel 27.1),

  • sollen Menschen mit Behinderungen gefördert werden hinsichtlich Beschäftigungsmöglichkeiten und beruflichem Aufstieg auf dem Arbeitsmarkt sowie Unterstützung bei der Arbeitssuche, beim Erhalt und der Beibehaltung eines Arbeitsplatzes sowie beim beruflichen Wiedereinstieg erhalten (Artikel 27.1e),

  • soll sichergestellt werden, dass am Arbeitsplatz angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen getroffen werden (Artikel 27.1i).

Das Gesetz zum Übereinkommen der Vereinten Nationen ist weitreichend, jedoch kein sozialrechtliches Leistungsgesetz. Immerhin verpflichten sich die Signatarstaaten, mindestens alle 4 Jahre über ihre jeweiligen Fortschritte bei der Inklusion behinderter Menschen zu berichten.

Im September 2011 stellte die Bundesregierung ihren Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vor [8]. Er umfasst 236 Seiten, enthält allerdings nur wenig, das die berufliche Förderung von Menschen mit neurologischer oder psychiatrischer Behinderung betrifft:

„Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, mehr Beschäftigungschancen für Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu schaffen. Dazu sind wir auf die Kooperation mit Arbeitgebern und Gewerkschaften angewiesen, die wir ausdrücklich ermuntern, sich an einer Beschäftigungsoffensive für Menschen mit Behinderungen zu beteiligen“ (S. 38).

„Arbeitsplätze für ältere (über 50jährige) arbeitslose oder arbeitssuchende schwerbehinderte Menschen: In den nächsten 4 Jahren werden 40 Millionen Euro mit dem Ziel zur Verfügung gestellt, 4.000 Arbeitsplätze zu schaffen. Ältere behinderte und schwerbehinderte Arbeitslose werden aber insbesondere auch durch Leitungen der Arbeitsförderung, etwa durch spezielle Eingliederungszuschüsse, bei der Aufnahme einer Beschäftigung gezielt unterstützt“ (S. 39).

„Implementierung von Inklusionskompetenz bei Kammern. In den nächsten 2 Jahren werden 5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, mit dem Ziel, bei den Kammern, die für kleine und mittlere Unternehmen Ansprechpartner sind, verstärkt Kompetenzen für die Inklusion schwerbehinderter Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu schaffen und durch gezielte Beratung mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen bei den Mitgliedsunternehmen zu akquirieren“ (S. 39).

Ansonsten wird für den Arbeitsmarkt auf Bestehendes hingewiesen, das „Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM)“, die „RehaFutur-Initiative“ des BMAS sowie die Werkstätten für behinderte Menschen.

„Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, den bereits bestehenden Ansatz des Rechts der Rehabilitation und Teilhabe im SGB IX weiterzuentwickeln und dort Lösungsmöglichkeiten für Umsetzungsdefizite, insbesondere im Bereich des trägerübergreifenden Persönlichen Budgets, bei den Gemeinsamen Servicestellen und der Frühförderung behinderter Kinder, zu finden“ (S. 56). Das SGB IX ist wie das Gesetz zum Übereinkommen der Vereinten Nationen kein „Leistungsgesetz“, belastbare Forderungen lassen sich nur aus seiner Umsetzung, z. B. in das SGB III (Arbeitsförderung), V (Gesetzliche Krankenversicherung) oder VI (Gesetzliche Rentenversicherung), ableiten.

Kern et al. [1] ist recht zu geben, dass „ein dringender Bedarf an zielgerichteten Initiativen und Interventionen zur Verbesserung der Erwerbssituation von MS-Patienten in Deutschland besteht“, ebenso wie für andere Menschen mit durch Hirnschädigung erworbenen Behinderungen [9]. Besonders wichtig ist ein breites gesellschaftliches Verständnis für die besonderen Belange non Menschen mit erworbener Hirnschädigung, insbesondere auch bei Arbeitgebern und Kollegen.

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Prof. Claus-W. Wallesch