Exp Clin Endocrinol Diabetes 2012; 120 - T12
DOI: 10.1055/s-0032-1330083

Geschlechtsentwicklungsstörungen

W Birnbaum 1
  • 1Sektion für Experimentelle Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie, Universität zu Lübeck, Germany

Unter den Störungen der Geschlechtsentwicklung werden verschiedene angeborene Abweichungen der Geschlechtsdeterminierung und -differenzierung zusammengefasst, die ehemals als „Intersexualität“ bezeichnet wurden. Seit 2005 findet die Bezeichnung Störungen/Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung bzw. Disorders/Differences of Sex Development=DSD Verwendung. Unter DSD verstehen wir eine fehlende Übereinstimmung von chromosomalem, gonadalem und phänotypischem Geschlecht. Ursächlich sind sowohl chromosomale als auch monogen vererbte Störungen. In der aktuellen Klassifikation von DSD werden Formen mit 46,XX Karyotyp und überschießender Virilirisierung, insbes. das AGS von DSD mit 46,XY Chromosomensatz und unzureichender bzw. komplett fehlender Androgenwirkung, wie z.B. die Gonadendysgenesie, die Androgenresistenz und die Androgenbiosynthesedefekte, unterschieden. Aberrationen der Geschlechtschromomen (z.B. 45,XO, 47,XXY) sowie genitale Auffälligkeiten im Rahmen von syndromalen Erkrankungen werden ebenso in der Klassifikation aufgeführt. Das klinische Erscheinungsbild bei Geburt ist in vielen Fällen ähnlich, der weitere Verlauf jedoch entsprechend der zugrunde liegenden Ursache sehr verschieden. Nur in 40% der Fälle lässt sich eine exakte Diagnose stellen. Die Geburt eines Kindes mit uneindeutigem Genitalbefund stellt daher eine enorme Herausforderung dar. Ältere phänotypisch eindeutige Mädchen fallen möglicherweise erst durch Leistenbrüche mit Vorfall hodenähnlicher Strukturen auf. Jugendliche suchen bei abweichender Pubertätsentwicklung meist über Umwege Rat zur weiteren Behandlung. Ein spezialisiertes Zentrum mit multidisziplinärem Team (MDT) soll im ersten Schritt die diagnostischen Prozeduren strukturieren und im weiteren Verlauf eine nachhaltige Betreuung sicherstellen. Verschiedene Fachdisziplinen wie pädiatrische Endokrinologie, Psychologie, Kinderchirurgie inkl. Urologie, Humangenetik, Labormedizin und im Verlauf Gynäkologie sind Teil des MDT. Zur Diagnostik gehören die Anamnese, der exakte klinische Befund mit Beurteilung des äußeren Genitales, eine Untersuchung des inneren Genitales mittels Sonografie, ggf. mit Laparoskopie und die Bestimmung des Chromosomensatzes. Im Blut bzw. im Sammelurin werden Steroidprofile ggf. nach Stimulation erstellt. Eine molekulargenetische Analyse sollte erst nach Auswertung der Befunde gezielt erfolgen. Das AGS, die komplette Androgenresistenz und die komplette oder partielle Gonadendysgenesie stellen die häufigsten Diagnosen im Formenkreis DSD dar.

Die psychosoziale Betreuung ist Kernbestandteil einer guten Versorgung. Bei Aufklärung über die Diagnose, bei dem Prozess der Entscheidungsfindung, bei der Geschlechtszuweisung und dem weiteren Umgang mit DSD darf eine spezielle psychologische Unterstützung nicht fehlen. Im Gegensatz zu früherer Praxis steht der „Informed Consent“ im Zentrum des Managements von DSD. Nach Geburt eines Kindes mit DSD steht die Frage der Geschlechtszuweisung im Vordergrund. Zum Zeitpunkt der Pubertät bis ins Erwachsenenalter hinein besteht Beratungsbedarf über eine passende Hormontherapie ebenso wie über ein erfülltes Sexualleben (evtl. Anlegen einer Neovagina), Fruchtbarkeit und Partnerschaft. Irreversible Eingriffe sowohl durch Hormontherapie als auch durch operative Maßnahmen werden sehr zurückhaltend und nur nach einem vielschichtigen Entscheidungsprozess durchgeführt. Dies gilt für eine Gonadektomie ebenso wie für medizinisch nicht unbedingt notwendige Korrekturoperationen. Gonadektomien können aufgrund einer drohenden Entartung bei fehlender Funktionsfähigkeit der Gonaden indiziert sein. Virilisierungserscheinungen zum Zeitpunkt der Pubertät bei Testosteronsynthesestörungen können im Einverständnis mit den Betroffenen eine weitere Indikation zur Entfernung der Keimdrüsen sein. Die Entscheidung für und gegen eine Behandlung muss höchsten Anforderungen genügen. Empfehlungen, wie sie im Februar 2012 durch den Deutschen Ethikrat ausgesprochen wurden, sollten unbedingt Berücksichtigung finden. Im Interesse der Betroffenen müssen in Zukunft klinische Studien zur Behandlungszufriedenheit und prospektiv zur Überprüfung verschiedener Therapieansätze ins Zentrum der Forschung im Bereich DSD rücken.