PPH 2012; 18(06): 284
DOI: 10.1055/s-0032-1330039
PPH|Szene
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Brunos Welt Die letzte Zahl (∞ − 1)

Bruno Hemkendreis
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Publication Date:
22 November 2012 (online)

Vor kurzem berichteten alle Medien ausgiebig darüber, dass es dem Forschungszentrum Cern gelungen sei, das sogenannte „Gottesteilchen“ nachzuweisen. Abgesehen davon, dass es sich bei dem Begriff um eine etwas reduzierte Übersetzung von „goddamn particle“ handelt, bedient er die uralte Sehnsucht, zu entschlüsseln, was „die Welt im Innersten zusammenhält“. Egal auf welchem Gebiet, wir sind immer bestrebt, die letzte Wahrheit zu finden.

Mit der „Dekade des Gehirns“, die mit dem Millennium zu Ende ging, waren ähnliche Hoffnungen verbunden: das menschliche Gehirn zu entschlüsseln, und endlich die Ursachen psychischer Erkrankungen zu finden.

Die Realität ist aber offensichtlich so, dass immer, wenn eine bahnbrechende Entdeckung gemacht wird, eine unüberschaubare Anzahl neuer Fragen auftaucht. Nicht nur das Universum, der Raum scheint unendlich zu sein, sondern auch der Raum menschlicher Möglichkeiten. Wahrscheinlich wird es nie eine letzte Antwort darauf geben, warum jemand erkrankt, was die eigentliche Ursache ist, und welches Medikament die Ordnung an den Synapsen wieder herstellt. Wir sind immer mehr als das.

Dieses soll kein Aufruf sein, nun alle Forschungen einzustellen; die Suche nach Antworten ist wichtig und lebensnotwendig. Die Hoffnung auf die große und letzte Antwort ist dabei wahrscheinlich die stärkste Triebfeder.

Aber nicht auszudenken, wenn diese letzte Antwort tatsächlich gefunden würde: Es gäbe fortan keine weitere Entwicklung, Stagnation, Ende der Fahnenstange!

Die Antwort auf die letzten Fragen bleibt der schöne Wunschtraum, irgendwann alles zu verstehen und unter Kontrolle zu haben. Vielleicht ist die Endlichkeit leichter zu ertragen als die Unendlichkeit, Begrenzungen können auch Leitplanken sein. Mit der Freiheit in einem unendlichen Raum, mit unendlichen Möglichkeiten menschlicher Spielräume – auch auf die Gefahr hin, dass manche als krank interpretiert werden – zu leben, ziehe ich allerdings vor.

Meine Tochter hat mir dazu einmal eine pragmatische Alternative vorgeschlagen. Sie war zu dem Zeitpunkt vielleicht vier oder fünf Jahre alt und von Zahlen und der neu erlernten Fähigkeit des Zählens fasziniert. Ins Zählen vertieft fragte sie plötzlich: „Was ist eigentlich die letzte Zahl?“

Ich versuchte ihr zu erklären, dass es die nicht geben könne, weil man unendlich weiterzählen kann. Ihr war meine Antwort viel zu umständlich, sie unterbrach mich und meinte: „Dann sag halt einfach die vorletzte.“