Rehabilitation (Stuttg) 2012; 51(05): 340-341
DOI: 10.1055/s-0032-1323652
Einführung zum Sonderthema: Beschwerdenvalidierung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Beschwerdenvalidierung

Symptom Validation
F. Petermann
1   Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen
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Publication Date:
18 October 2012 (online)

Die Anträge auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung infolge psychischer Erkrankungen nehmen kontinuierlich zu. Nur ein verschwindend geringer Anteil der Personen, die eine Erwerbsminderungsrente wegen psychischer Erkrankungen beziehen, kehrt trotz der Befristung der Leistung in das Erwerbsleben zurück. Dafür müssen unterschiedliche Faktoren verantwortlich gemacht werden, die sicherlich nicht nur in der aktuellen Situation des Betroffenen zu suchen sind. Das Ereignis „Erwerbsminderungsrente“ ist häufig der Endpunkt einer langen Krankheitsgeschichte, die zusätzlich durch eine brüchige Erwerbsbiografie oder lange Arbeitsunfähigkeits- oder Arbeitslosigkeitszeiten im Vorfeld geprägt ist. Arbeitsmarktverhältnisse und die erlebte Schwere der Erkrankung führen mutmaßlich in die Erwerbsminderungsrente, die häufig auch zunächst als eine Entlastung empfunden wird.

Der Wunsch nach Transferleistungen vor dem Hintergrund objektiver oder subjektiver Einschränkungen der Aktivität und Teilhabe aufgrund einer psychischen Erkrankung oder aufgrund schwieriger Arbeitplatz- oder Arbeitsmarktverhältnisse kann zu einer nicht durchgehend plausiblen, möglicherweise aggravierten Symptom- und Beschwerdedarstellung führen, wobei die tatsächliche Motivation schwer zu ergründen ist. So kann die Symptom- und Beschwerdedarstellung durch die psychische Erkrankung selbst, zum Beispiel durch Ängstlichkeit und negative Emotionalität [1], aber auch durch Müdigkeit und Antriebslosigkeit beeinflusst sein. Das Misstrauen gegenüber dem Gutachter, der möglicherweise die Schwere der persönlichen Einschränkungen nicht erkennen oder ausreichend würdigen könnte, spielt bei der Darstellung der Krankheitsgeschichte ebenfalls eine bedeutsame Rolle.

Der Beitrag von Walter et al.[2] geht der Frage nach, welche Bedeutsamkeit Beschwerdenvalidität im Begutachtungskontext besitzt. Erstaunlich dabei ist, dass die Objektivierung der geschilderten Symptome und Beschwerden bisher in der Begutachtung im Rahmen der psychosomatischen Rehabilitation oder von Versicherten, die einen Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung stellen, kaum eine Rolle spielt. Dies ist umso erstaunlicher, da die Leitlinie zur sozialmedizinischen Beurteilung von psychischen und Verhaltensstörungen die Validierung der Beschwerden dringend empfiehlt und auch Verfahren dazu vorschlägt. Das mag daran liegen, dass sich die Gutachter in der Rehabilitation und in den Praxen immer noch sehr auf in vielen Berufsjahren gewachsenes klinisches Urteilsvermögen verlassen. Es kann aber auch damit zu tun haben, dass die bisher zugänglichen Instrumente im deutschsprachigen Raum vor allem im neuropsychologischen Begutachtungskontext entwickelt wurden und die Frage kontrovers diskutiert wird, ob die mit diesen Verfahren gemessene Leistungsbereitschaft ohne weiteres auf Patienten mit psychischen Erkrankungen übertragbar ist [3]. Walter et al. [2] weisen darauf hin, dass die Instrumente zum Nachweis von Antwortmanipulationen im kognitiven Bereich besser und weiter entwickelt sind als für psychische bzw. psychosomatische Erkrankungen. Dennoch bleibt, unabhängig von der Frage, wie geeignet die Instrumente sind, ein Problem bestehen, nämlich das Coaching von Probanden.

Zur Beschwerdenvalidierung bei psychischen Erkrankungen stehen in Deutschland entweder Skalen aus dem Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) oder der strukturierte Fragebogen simulierter Symptome (SFSS) zur Verfügung. Während die Skalen des MMPI in Deutschland bisher wenig für diese Zwecke eingesetzt worden sind, besitzt der SFSS den Nachteil, dass er bisher nur an forensischen Patienten und an instruierten Simulanten validiert worden ist. Der Einsatz u. a. bei psychosomatischen Patienten wird jedoch empfohlen. Mit dieser Problemstellung beschäftigen sich die beiden Studien von Kobelt et al.[4] und Göbber et al. [5].

In der Studie von Kobelt et al.[ 4] wird untersucht, wie hoch der Anteil von Patienten ist, die durch eine invalide Symptomdarstellung auffallen, und wie sie charakterisiert sind. Hierfür wird der SFSS als Screening-Instrument zu Beginn der psychosomatischen Rehabilitation eingesetzt. Gleichzeitig wird die Effektivität stationärer psychosomatischer Rehabilitation bei Versicherten mit invalider Symptomdarstellung gemessen. Es zeigt sich, dass etwa ein Viertel der Patienten auffällige Werte im SFSS aufweist. Dennoch ergeben sich innerhalb der Gruppe von Versicherten mit auffälligem Antwortverhalten unterschiedliche Verläufe während der stationären Rehabilitation. Nur bei Patienten, die gleichzeitig auch einen auffällig hohen Depressionswert aufweisen, zeigt sich ein ungünstiger Verlauf.

Gibt es darüber hinaus weitere Rehabilitandengruppen, deren Antwortverhalten auffällig ist? Göbber et al.[ 5] können zeigen, dass es bei Migranten im Vergleich zu den deutschen Rehabilitanden häufiger Hinweise auf eine invalide Symptomdarstellung gemessen mit dem SFSS gibt. Hier zeigt sich wieder ein enger Zusammenhang von Symptomschwere und soziodemografischen Merkmalen, der bei der Optimierung des Reha-Angebotes für Migranten stärker berücksichtigt werden sollte.

Das Thema „Beschwerdenvalidität“ stellt in der Rehabilitationsforschung Neuland dar. Mit der Zusammenstellung der in diesem Heft abgedruckten Arbeiten wird gezeigt, dass dieses Thema bisher kaum eine Bedeutung hatte. Gleichzeitig wird damit aber auch ein noch fehlender Bereich in der Rehabilitationsdiagnostik geschlossen, der zusätzlichen Gewinn für die Begutachtung und die zu erwartende Effektivität der medizinischen Rehabilitation bringen kann. Dennoch müssen die aktuell bestehenden Grenzen klar benannt werden: Die bisher zur Verfügung stehenden Instrumente sind noch zu wenig für den generischen Einsatz in den Rehabilitationskliniken und in der Begutachtung von psychischen Störungen geeignet. Die neuropsychologischen Verfahren und die Spezifität der zur Verfügung stehenden Selbstbeurteilungsinstrumente zur Erfassung der Beschwerdenvalidität müssen für die psychosomatische Rehabilitation optimiert werden. Hier besteht ein erheblicher Forschungs- und Entwicklungsbedarf.