Gesundheitswesen 2012; 74 - A122
DOI: 10.1055/s-0032-1322108

Biopsychosoziales und kalendarisches Alter(n) in der Anwendung der ICF

P Stute 1, K Pfeifer 2, M Viol 3
  • 1Europäische Vereinigung für Vitalität und Aktives Altern (eVAA) e.V.
  • 2Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen
  • 3Beirat für Wissenschaft und Bildung der Europäischen Vereinigung für Vitalität und Aktives Altern eVAA e.V.; WHO ICF-Koordinator des MDK a.D.

Die 2001 von der WHO veröffentlichte Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) hat zum Ziel, nicht nur den biologisch-körperlichen und psychosozialen Dimensionen von Krankheit bzw. Behinderung sondern auch von Gesundheit gerecht zu werden. Die Klassifikation ergibt sich aus den vier Komponenten Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation, Umwelt- sowie personbezogene Kontextfaktoren. Die Kontextfaktoren stellen hierbei „den gesamten Lebenshintergrund eines Menschen dar“ (DIMDI 2004) (1).

Zu den personbezogenen Faktoren (PKF) zählen u.a. auch das Alter bzw. Altern (Viol et al. 2006) (2), sofern keine eindeutig pathologischen Abweichungen wie z.B. Progerie vorliegen. Alter und Altern sind zwei wesentliche Merkmale, deren Präzisierung für eine bedarfsorientierte individualisierte und personalisierte Gesundheitsversorgung in der Gerontologie/Geriatrie unverzichtbar ist. Aber auch für viele andere medizinischen, biologischen und gesundheitswissenschaftlichen Bereiche wie Erkenntnistheorie, Sozialmedizin, Bewegungswissenschaften, Rehabilitation, Pharmakologie, Onkologie, Prävention, Befundung und Therapie von chronischen „Zivilisations- und Alters“krankheiten, Evaluation und Nutzenbewertung von (bio)medizinischen und gesundheitswissenschaftlichen Interventionen etc. besitzt das Alter eine besondere Bedeutung hinsichtlich einer möglichst exakten Beschreibung des Bedingungsgefüges von Gesundheit und Krankheit.

Das Alter bedarf auf der systemischen Ebene des Individuums der Differenzierung in ein „kalendarisches Alter“ und ein „biologisches Funktions- und Strukturalter“. Auf der Ebene der Person können „psychisches“ und „soziales Alter“ methodisch voneinander getrennt oder auch als „psychosoziales Alter“ gefasst werden.

Die professions- und fachübergreifende Bestimmung des Biofunktionalen Status (BFS) bzw. des Biofunktionalen Alter(n)s (BFA) nach Pöthig et al. (2011) (3) ermöglicht eine ICF-kompatible Erfassung und Darstellung der alters- (und geschlechts)typischen gesamtorganismischen Funktionstüchtigkeit. Es handelt sich dabei um die Darstellung eines grundlegenden Aktivitäts- und Teilhabepotenzials des Menschen und seines Befindens. Das BFS-Profil inkl. sogenannter biopsychosozialer „Schlüsselmarker“ bildet altersvalide wichtige Indikatoren für Risiken und Ressourcen der Funktionalen Gesundheit nach ICF in den evolutionsbiologisch bzw. alltags-relevanten Handlungsfeldern Bewegung, Ernährung und emotional-sozialer Stress ab.

Mit einem definierten Berechnungsalgorithmus kann daraus ferner ein summativer Altersindex, der sogenannte „(Bio)Functional Age Index“ ((B)FAI), berechnet werden. BFS und (B)FAI basieren auf dem Vergleich mit einem definierten Referenzkollektiv (statistisch repräsentative „Normal“population von 18 bis (derzeit) 75 Jahren, Mitteleuropa). Somit wird cross-sektional gleichermaßen das geforderte Merkmal Altern abgebildet, d.h., neben der Statusbeurteilung wird der dynamische Verlauf des Alterungsprozesses im Vergleich bzw. im Verlauf gekennzeichnet (Voralterung, Spätalterung).

Da diese operationalisierbare Betrachtungsweise von Alter bzw. Altern bisher nicht in der aktuellen Fassung der personbezogenen Kontextfaktoren detailliert und abschließend ausgearbeitet wurde (Grotkamp et al. 2010) (4), ist eine nutzerorientierte Erweiterung möglich und wünschenswert und wird hier als wesentlich betrachtet.

Die ICF bietet im Rahmen ihrer PKF die begrifflichen Voraussetzungen, um eine nutzerorientierte Auswahl relevanter Merkmale (core set) entweder z.B. des ‚biologischen Alters‘ oder aber eines globalen „biopsychosozialen“ bzw. „biofunktionalen Alters“ entsprechend der jeweiligen Aufgabenstellung transparent zu machen und daraus die zielgerichteten Modelle, diagnostischen Methoden bzw. Interventionen abzuleiten. Gerontologisch orientierte Theoretiker und Praktiker spüren den Rückenwind, der ihnen durch die ICF Vortrieb gibt und sind dabei, ihre Assessments und Assignments entsprechend auszurichten.

Literatur:

(1) Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (2004) Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Köln: Deutscher Ärzte-Verlag.

(2) Viol M, Grotkamp S, van Treek B, Nüchtern E, Hagen T, Manegold B, Eckardt S, Penz M, Seger W (2006) Personbezogene Kontextfaktoren, Teil I. Ein erster Versuch zur systematischen, kommentierten Auflistung von geordneten Anhaltspunkten für die sozialmedizinische Begutachtung im deutschen Sprachraum. Gesundheitswesen 68: 747–59.

(3) Pöthig D, Gerdes W, Simm, A Viol, M, Wagner P (2011) Biofunktionale Alter(n)sdiagnostik des Menschen – Potenziale und Grenzen. Z Gerontol Geriat 44(3):198–204.

(4) Grotkamp S, Cibis W, Behrens J, Bucher PO, Deetjen W, Nyffeler ID, Gutenbrunner C, Hagen T, Hildebrandt M, Keller K, Nüchtern E, Rentsch HP, Schian H, Schwarze M, Sperling M, Seger W (2010) Personbezogene Faktoren der ICF – Entwurf der AG „ ICF “ des Fachbereichs II der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP). Gesundheitswesen. 72: 908–916.