Hintergrund: Ökonomische Argumente besitzen in der Debatte um Prioritäten in der medizinischen
Versorgung eine dominante Bedeutung Sei es als Argument für den Diskurs über die vernünftige
Verteilung von begrenzten Ressourcen, oder als Kriterium für die Priorisierung bzw.
Posteriorisierung bestimmter Patientengruppen oder medizinischer Maßnahmen. Gerade
die Frage nach den Priorisierungskriterien und den ihnen zugrunde liegenden Werten
bedarf eines gesellschaftlichen Konsenses [1–3]. Ein allgemeiner Konsens über die
Rolle von gesundheitsökonomischen Priorisierungskriterien scheint jedoch kaum erreichbar.
Vertreter der Politik, aber auch Bürgerinnen und Bürger als (potentielle) Patienten,
Versicherte und Steuerzahler scheinen gesundheitsökonomische Überlegungen häufig reflexhaft
abzulehnen. Dieser Beitrag untersucht, wie Bürger im Rahmen eines diskursiven Bürgerbeteiligungsverfahrens
das Priorisierungskriterium „Kosteneffizienz“ bewerten und welche Argumente dabei
eine Rolle spielen.
Material und Methode: Im Jahr 2010 haben sich im Rahmen einer regionalen Bürgerkonferenz 19 Bürgerinnen
und Bürger Lübecks (7 ♀, 12♂ Alter Ø=53) an vier Wochenenden intensiv in die Problematik
der Priorisierung eingearbeitet. Mit Unterstützung eines professionellen Moderators
haben sie Argumente diskutiert und neun Experten befragt, darunter einen Gesundheitsökonomen.
Zum Abschluss haben sie ihre Empfehlungen zu Prozessen und Kriterien der Priorisierung
in einem Bürgervotum festgehalten. Zur inhaltlichen Vorbereitung der Bürgerkonferenz
und zur Rekrutierung der Teilnehmer wurde ein postalischer Bevölkerungssurvey in Lübeck
durchgeführt (N=3000 Alter ≥18 Rücklauf: N=1366 45,4%). Das Bürgervotum sowie die
Beratungen während der Bürgerkonferenz (Transkript) werden inhaltsanalytisch ausgewertet,
um Argumente und Bewertung zu gesundheitsökonomischen Priorisierugnskriterien zu identifizieren.
Diese Daten werden anschließend mit den Ergebnissen des Lübecker Bevölkerungssurveys
und anderer bereits veröffentlichter Erhebungen (z.B. nationaler Bevölkerungssurvey
[4]) verglichen. Um mögliche Präferenzänderungen der Bürgerkonferenzteilnehmer abbilden
zu können, wurden leitfadengestützte Einzelinterviews mit 8 Teilnehmern vor und 14
nach der Konferenz durchgeführt sowie ihre individuellen Fragebogen als Referenz herangezogen.
Zudem dienen Berichte und Stellungnahmen zur Priorisierung als Vergleichsdaten – z.B.
aus Deutschland, Schweden, Norwegen, den Niederlanden und Dänemark [5–11].
Ergebnisse: Die Lübecker Surveyergebnisse zeigen eine eindeutige Ablehnung des Kriteriums „Kosteneffizienz“
durch die Befragten: 63,4% lehnen eine Bevorzugung von Behandlungen mit günstigem
Kosten-Nutzen-Verhältnis ab. Eine nationale Fragebogenbefragungen führte zu ähnlichen
Ergebnissen [4]. Die Teilnehmer der Lübecker Bürgerkonferenz hingegen befürworteten
eine Priorisierung nach Kosten-Nutzen-Verhältnis explizit in ihrem Votum. Dieses Kriterium
soll jedoch umso weniger eine Rolle spielen, je schwerer ein Patient erkrankt ist.
Ein Vergleich der Fragebögen der Konferenzteilnehmer zeigt tendenzielle Veränderungen
hin zu einer stärkeren Akzeptanz der Kosteneffizienz. Ein Vergleich mit in- und ausländischen
Stellungnahmen zur Priorisierung zeigt auch hier eine grundsätzliche Zustimmung zu
gesundheitsökonomischen Kriterien.
Schlussfolgerung: Die Bewertung von gesundheitsökonomischen Priorisierungskriterien durch die Bürgerkonferenz
unterscheidet sich von den Ergebnissen des Bevölkerungssurveys und anderer quantitativer
Erhebungen, zeigt jedoch größere Übereinstimmung mit den analysierten Berichten in-
und auslaendischer Kommissionen. Die stärkere Akzeptanz des Kosten-Nutzen-Kriteriums
während der Bürgerkonferenz kann als eine Folge des Verfahrens selbst interpretiert
werden. Im Rahmen intensiver Diskussionen und der Expertenbefragung konnten die Teilnehmer
relevante Argumente gegeneinander abwägen und den Anwendungsbereich des Kosten-Nutzen-Kriteriums
differenzieren. Dies hat möglicherweise den Reflex, ökonomische Kriterien für die
Priorisierung in der Medizin abzulehnen, verringert.
Literatur:
1. Meyer, T., Zusammenhang zwischen Priorisierung und Rationierung – zwei Modelle.
ZEFQ, 2009. 103(2): 80–4.
2. Daniels, N., Accountability for reasonableness: Establishing a fair process for
priority setting is easier than agreeing on principles. BMJ, 2000. 321(7272): p.1300–1.
3. Daniels, N., Sabin, J.E., Accountability for reasonabless: an update. BMJ, 2008.
337: 1850.
4. Diederich, A., Schreier, M., Einstellungen zu Priorisierungen in der medizinischen
Versorgung: Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung, FOR655 Schriftenreihe.
2010.
5. Zentrale Ethikkkommission bei der Bundesärztekammer, Prioritäten in der medizinischen
Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): Müssen und können
wir uns entscheiden? DÄB, 2000. 97(15): A1017–23.
6. Zentrale Ethikkkommission bei der Bundesärztekammer, Priorisierung medizinischer
Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). DÄB, 2007. 104(40):
A1–5.
7. Swedish Parliamentary Priorities Commission, Priorities in Health Care: Ethics,
Economy, Implementation. Stockholm. 1995.
8. NOU, The Public Statements of Norway. Guidelines for Priority-setting in the Norwegian
Health Service (english summary). The report of the Lønning Committee. Oslo, Universitetsforlaget.
1987.
9. NOU, The Public Statements of Norway, Prioritizations revisited. A review of guidelines
for prioritizations in the Norwegian health service. Oslo, Universitetsforlaget. 1997.
10. Dutch Government Committee on Choces in Health Care, Choices in Health Care. The
Netherlands, Ministry of Welfare, Health and Cultural Affairs. 1992.
11. Danish Council of Ethics, Priority-setting in the Health Service. Copenhagen,
The Danish Council of Ethics. 1997.