Gesundheitswesen 2012; 74 - A117
DOI: 10.1055/s-0032-1322103

Kosteneffektivität sekundärpräventiver Maßnahmen zur Vermeidung einer Anpassungsstörung bei akutem Tinnitus – medienbasierte Programme vs. Gruppenschulung

JT Stahmeyer 1, S Zastrutzki 1, N Nyenhuis 2, B Kröner-Herwig 2, B Jäger 1, C Krauth 1
  • 1Medizinische Hochschule Hannover
  • 2Universität Göttingen

Hintergrund: Mehr als 25% der erwachsenen Bevölkerung ist schon einmal von einem zumeist nur kurzfristig anhaltenden Tinnitus betroffen gewesen. Die Prävalenz für einen anhaltenden, chronischen Tinnitus beträgt 4%. Bei 10–15% der Patienten tritt keine Habituation ein und die Aufmerksamkeit des Betroffenen richtet sich fast ausschließlich auf das Ohrgeräusch. Diese Patienten leiden häufig unter erheblichen Beeinträchtigungen, die von Schlafproblemen, Störungen der Kommunikationsfähigkeit, Ausbildung von Vermeidungsverhalten bis hin zu depressiven Episoden reichen und die allgemeine Lebensführung gravierend beeinträchtigen. Anders als für den chronischen Tinnitus existieren für den akuten Tinnitus keine etablierten und evaluierten Behandlungsansätze, obwohl eine frühzeitige Intervention sinnvoll erscheint. Hierzu wurden zwei medienbasierte Interventionen und ein professionell angeleitetes Gruppentraining entwickelt. Untersucht wurde, ob sich bewährte kognitiv-behaviorale Behandlungsverfahren positiv auf die Tinnitus-Symptomatik auswirken, die Ausbildung eines dekompensierten Tinnitus verhindern können und sich tinnitusbezogene Behandlungskosten einsparen lassen. Im vorliegenden Beitrag wird vertiefend auf die Betrachtung der Kosteneffektivität eingegangen.

Methodik: Die Studie wurde in einem randomisierten Kontrollgruppen-Design mit 4 Studienarmen durchgeführt: (1) Selbstmanagement-Anleitung per Broschüre, (2) Selbstmanagement-Anleitung per Internet, (3) professionell angeleitete Gruppenintervention, (4) Kontrollbedingung mit Placebobroschüre. Einschlusskriterien waren ein akuter Tinnitus (<6 Monate), Alter von 18–70 Jahren, ausreichende Deutschkenntnisse sowie keine schwerwiegenden Komorbiditäten. Die gesundheitsökonomischen Parameter wurden zu drei Erhebungszeitpunkten (Baseline, 3 Monate, 12 Monate) über Fragebögen erhoben. Die Bewertung der Leistungsinanspruchnahme wurde nach den Empfehlungen der AG MEG vorgenommen.

Ergebnisse: Insgesamt wurden 208 Patienten in die gesundheitsökonomische Analyse eingeschlossen. In den Patientengruppen mit Internetschulung (1.147€) und der angeleiteten Gruppenintervention (1.270€) sind im Jahresverlauf die geringsten krankheitsbedingten Kosten angefallen. In der Patientengruppe mit Edukationsbroschüre sind mittlere Kosten von 2.266€ angefallen, in der Kontrollgruppe betrugen diese 1.471€. Die Unterschiede waren jedoch statistisch nicht signifikant. Die Kosten der Interventionen betragen für die Edukationsbroschüre 9,90€, Internetschulung 22,48€ und Gruppentraining 85,36€ pro Patient. In allen Interventionsgruppen konnten im Vergleich zur Kontrollgruppe bessere Ergebnisse bezüglich der Beeinträchtigung durch den Tinnitus (TF-Skala) erzielt werden. In differenzierten Analysen konnte gezeigt werden, dass die Leistungsinanspruchnahme vom Schweregrad der Erkrankung abhängt und die Kosten mit dem Grad der Beeinträchtigung steigen. Insgesamt ist die Leistungsinanspruchnahme sehr heterogen.

Diskussion: Die Studie hat gezeigt, dass Patienten mit Tinnitus auf der Suche nach Heilung oder Verbesserung der Symptomatik vielfältige Leistungen in Anspruch nehmen. Diese reichen von den erwarteten und teilweise obligatorischen Besuchen beim Haus-, HNO-Arzt oder Psychotherapeuten bis hin zu wenig evidenzbasierten naturheilkundlichen Verfahren. Auch wenn eine Reduktion der krankheitsbedingten Folgekosten durch die Interventionen statistisch nicht belegt werden konnte, wurden Unterschiede in den verschiedenen Interventionsgruppen beobachtet. Auch unter Berücksichtigung der Interventionskosten liegen die Kosten in den Patientengruppen mit Selbstmanagement-Anleitung per Internet und angeleiteten Gruppentraining unter denen der Kontrollgruppe, so dass die Interventionen als kosteneffektiv angesehen werden können. Für die Versorgungspraxis bieten gerade die neu entwickelten medienbasierten Programme ein erhebliches Potential für eine kostengünstige und flächendeckende Behandlung von Patienten mit Tinnitus. Mit beiden Programmen konnte die Tinnitusbelastung deutlich gesenkt und vergleichbare Ergebnisse wie in der klassischen psychotherapeutischen Gruppenintervention erzielt werden.

Literatur:

Davies A, Rafaie EA (2000) Epidemiology of tinnitus. In: Tyler RS, ed. Tinnitus Handbook. San Diego, CA: Singular Press.

Jäger B, Lamprecht F (2001). Subgruppen der Krankheitsbewältigung beim chronischen Tinnitus. Eine clusteranalytische Taxonomie. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 30, 1–9.

Krauth C, Hessel F, Hansmeier T, Wasem J, Seitz R, Schweikert B (2005). Empirische Bewertungssätze in der gesundheitsökonomischen Evaluation – ein Vorschlag der AG Methoden der gesundheitsökonomischen Evaluation (AG MEG). Gesundheitswesen, 67(10),736–746.

Pilgramm M, Rychlick R, Lebisch H, Siedentop H, Goebel G & Kirchhoff D (1999). Tinnitus in der Bundesrepublik Deutsachland -eine repräsentative epidemiologische Studie. HNO 7, 261–265.