Gesundheitswesen 2012; 74 - A115
DOI: 10.1055/s-0032-1322101

Die Bedeutung der ICF für die Gerontologie und Geriatrie (Kooperation eVAA e.V. + DGGG e.V.)

A Simm 1, D Pöthig 2, M Gogol 1, J Schulz 2
  • 1Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie e.V. (DGGG e.V.)
  • 2Europäische Vereinigung für Vitalität und Aktives Altern (eVAA e.V.)

Die Gerontologie versteht sich nach Bürger als Brückenwissenschaft und professionsübergreifende Lehre vom biofunktionalen Alter(n) des Menschen – und dies in allen Lebensphasen („Lebenswandlungskunde“, Reifungs-, Rückbildungsalter). Sie umfasst in diesem Kontext auch die Geriatrie (Altersmedizin bzw. Altersheilkunde als Wissenschaft und Lehre vom alten und kranken, meist multimorbiden Menschen).

Das menschliche Altern in Krankheit wie in Gesundheit mit verlässlichen Parametern abzubilden, ist von jeher ein zentrales Anliegen der Gerontologie. Dazu werden Klassifikationsgrundlagen für Diagnostikmodelle von Lebensphänomenen entwickelt und genutzt, die Biologie, Medizin und Gesundheitswissenschaften gleichermaßen befruchten und miteinander verbinden können. Dafür soll die Beurteilung des Biopsychosozialen bzw. Biofunktionalen Status des Menschen und die Ableitung seines Biofunktionalen Alters als Beispiel dienen (1,2). Hier existiert eine schlüssige – weil systemtheoretisch klassifizierbar und operationalisierbar – Schnittstelle zur ICF der WHO, die es interdisziplinär auszuarbeiten gilt. Die Lebenszeit, das Lebensalter stellt in diesem Kontext eine der erkenntnistheoretisch bedeutsamen Grunddimensionen des menschlichen Phänotyps dar, die seinen aktuellen Entwicklungszustand beschreiben. Neben Chronobiologie, Geschlecht, Disposition (Veranlagung bzw. genomischer Anteil) und Exposition (Interventionen/Verhältnisse/Verhalten bzw. epigenomischer Anteil) prägt und beeinflusst das Alter(n) als personbezogener Kontextfaktor der Funktionalen Gesundheit nach ICF auf eigene, regelhafte Weise mess- und überprüfbar die Strukturen, Funktionen, Fähigkeiten, Aktivitäten und die Teilhabemöglichkeiten eines Menschen.

Das alterstypische Indikatormuster des Biofunktionalen Status auf genomischer und epigenomischer Ebene (Transkriptom, Proteom, Metabolom) bis hin zum Regulatom und Vitalom lässt sich zeitlebens sowohl positiv im Sinne eines Risiko-, Ressourcen- und Schadensmanagement wie auch negativ (siehe Pathogenese von chronischen Zivilisations- und Alternskrankheiten) beeinflussen. Deshalb hat die Messung des BFS und BFA auf der Basis der ICF zukunftsweisende Bedeutung sowohl für den Einzelnen (z.B. Zielkriterien, Strategien und Konzepte für die Individualisierte und die Evidenzbasierte Medizin (Zusatz-)Nutzenbewertung von gesundheitsförderlichen, präventiven, therapeutischen und rehabilitativen Interventionen) als auch für die Gesellschaft (Wirtschaft und Versicherungssysteme, Politik und Gesellschaft, Bildung und Wissenschaft). Ambitionierte Wünsche wie „Gesund aus der Schule“, „Fit4Work“, „Gesund in die Rente“, „Vital in der Rente“ und das demografisch- epidemiologische Ziel der Morbiditätskompression im hohen Alter bilden das weite Spannungsfeld von forschungs- und bildungspolitisch relevanten Anwendungspotenzialen der ICF für die Gerontologie ab.

Literatur:

(1) Pöthig D und Simm A: Brücken zwischen Experten schlagen: Vitalität, Gesundheitsressourcen und Biofunktionales Alter(n). Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2011 27:57–63

(2) Pöthig D et al.: Biofunktionale Alter(n)sdiagnostik des Menschen. Potenziale und Grenzen. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 2011 3: 198–204