Gesundheitswesen 2012; 74 - A102
DOI: 10.1055/s-0032-1322088

Die Steuerung der Krankenkassen im Kontext des nationalen und europäischen Wettbewerbsrechts

R Schmucker 1
  • 1Klinikum der Goethe-Universität, Frankfurt a.M.

Einleitung: Seit dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 ist die Wettbewerbssteuerung im Gesundheitswesen zu einem zentralen Element der bundesdeutschen Gesundheitspolitik geworden. Die wettbewerblichen Handlungsspielräume, die die Politik den verschiedenen Akteuren zur Verfügung gestellt hat, um sich auf den neu geschaffenen Märkten zu positionieren, wurden in den nachfolgenden Gesundheitsreformen schrittweise erweitert. Damit wurde eine ordnungspolitische Wende im GKV-System in Gang gesetzt, die die Regulierung der Krankenkassen sukzessive aus dem sozialrechtlichen Kontext herauslöst und kartellrechtlichen Normen unterstellt. Jenseits meist rechtswissenschaftlich geprägter Expertendiskurse wird diese Veränderung nur wenig wahrgenommen. Dabei berührt sie in ganz grundsätzlicher Weise den Status der GKV und hat für die künftige Steuerung von Gesundheitspolitik weit reichende Konsequenzen. Im Kern geht es um die Frage, ob die Kassen auch zukünftig als Körperschaften öffentlichen Rechts – und damit als „mittelbare Staatsverwaltung“ – fungieren, oder ob sie als Unternehmen auf einem Gesundheitsmarkt agieren, der – wie andere Märkte auch – einer wettbewerbsrechtlichen Logik folgt.

Daten/Methodik: Vor diesem Hintergrund werden die jüngeren Reformen des GKV-Systems analysiert, mit denen die Grenzen zwischen sozial- und wettbewerbsrechtlicher Regulierung der Krankenkassen verschoben wurden. Sichtbarer Ausdruck dieses Wandels sind die Metamorphosen des §69 SGB V, in dem die (Nicht-)Anwendbarkeit des deutschen Kartellrechts auf die gesetzlichen Kassen geregelt wird. Seit dem Gesundheitsreformgesetz 2000 wurde diese Norm mehrfach geändert. Aktuell sieht die achte Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen eine weitere Neufassung des §69 SGB V vor. Mittels einer Dokumentenanalyse der Gesetzestexte sowie des gesundheitspolitischen Diskurses um die kartellrechtliche Einstufung der Krankenkassen werden die Veränderungen des Regulierungskontextes nachvollzogen und mögliche Konsequenzen diskutiert.

Ergebnisse: Jenseits ihrer kollektivvertraglichen Aufgaben wird das Handeln der Krankenkassen den Normen des Wettbewerbsrechts unterworfen. Die ordnungspolitische Wende in der Gesundheitspolitik führt in der Tendenz zu einer doppelten Herauslösung der gesetzlichen Krankenkassen aus ihrem sozialrechtlichen Regulierungszusammenhang. Zum einen kommt es zu einer weitgehenden Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts auf die selektivvertraglichen Handlungsoptionen. Materiell werden neue und zusätzliche rechtliche Maßstäbe an das Kassenhandeln angelegt. Institutionell wird ein wachsender Regulierungsbereich den Akteuren der Wettbewerbspolitik übertragen (Kartellbehörden, Zivilgerichte). Die Einordnung der Kassen in das nationale Kartellrecht, dessen Normadressat Unternehmen sind, wirft zum anderen die Frage auf, inwiefern künftig auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes die deutschen Krankenkassen als Unternehmen behandeln und dem europäischen Wettbewerbsrecht unterwerfen wird. Die durchaus mögliche Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts würde die Regulierung der Kassen partiell der nationalen Gestaltungskompetenz entziehen.

Diskussion/Schlussfolgerung: Die analysierten Entwicklungen werden unterschiedlich bewertet. Wettbewerbsbefürworter begrüßen sie, da sie keinen Zielkonflikt zwischen den gesundheits- und sozialpolitischen Aufgaben der Krankenkassen und dem Schutz des Wettbewerbs sehen. Geht man jedoch nicht davon aus, dass Wettbewerb automatisch solidarische, umfassende und qualitativ hochwertige Versorgungsstrukturen hervorbringt, sondern hierfür eine wirkungsvolle politische Steuerung notwendig ist, werfen die Entwicklungen neue Fragen auf. Für die Zukunft der Steuerung der GKV zeichnet sich ein Spannungsfeld zwischen sozialrechtlich definierten Versorgungszielen und wettbewerbsrechtlichen Handlungsanforderungen ab.