Gesundheitswesen 2012; 74 - A94
DOI: 10.1055/s-0032-1322080

Sozialkapital und psychische Gesundheit heute – ein systematischer Überblick

C Riedel 1, M Luppa 1, HH König 2, SG Riedel-Heller 3
  • 1Universität Leipzig, Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health
  • 2Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
  • 3Medizinische Fakultät & Universität Leipzig, Leipziger Forschungzentrum für Zivilisationserkrankungen

Der Begriff des sozialen Kapitals hat schon lange Einzug in die Diskussion um Gesundheit und Gesellschaft gehalten. Der positive Zusammenhang von Sozialkapital und Gesundheit wurde in den vergangenen zehn Jahren anhand zahlreicher Studien belegt und diskutiert. Die Förderung von gesellschaftlichem und vor allem individuellem Sozialkapital wird zunehmend in staatliche Maßnahmen zur Gesundheitsprävention integriert. Über den genauen Wirkungsmechanismus des Sozialkapitals und sozialer Exklusion auf psychische Gesundheit herrscht jedoch noch immer Unklarheit. Ein Grund dafür könnten die sehr unterschiedlichen Auffassungen und Anwendungen hinsichtlich der Operationalisierung sozialen Kapitals in entsprechenden Studien sein. Wäre eine Homogenisierung des methodischen Herangehens bei der Verwendung des Sozialkapitalkonzepts möglich, könnte die Förderung der psychischen Gesundheit durch Sozialkapital durch stärkende staatliche Maßnahmen (wie z.B. Förderung der Mitgliedschaft in Sportvereinen) effektiver positioniert werden.

Die vorliegende Arbeit untersucht, inwiefern sich die Operationalisierung von sozialem Kapital entwickelt hat und beleuchtet dabei a) welche Entwicklungstendenzen zu erkennen sind, b) welche Teilaspekte von Sozialkapital sich tatsächlich auf psychische Gesundheit auswirken und c) ob neue Erkenntnisse für verallgemeinerbare Wirkungsmechanismen im Zusammenspiel von Sozialkapital und psychischer Gesundheit zu erkennen sind. In der Analyse wird individuelles Sozialkapital von gesellschaftlichem Sozialkapital unterschieden. Innerhalb dieser Dimensionen werden zusätzlich einzelne Teilaspekte unterschieden.

Es wurde eine elektronisch basierte Literatursuche durchgeführt, bei welcher alle quantitativen Studien eingeschlossen wurden, die (1) ein valides Messverfahren für psychische Erkrankungen und (2) ein Verfahren zur Messung von Sozialkapital anwendeten. Die Studien sollten (3) eine repräsentative Stichprobe untersuchen. Außerdem wurden (4) ausschließlich englisch- und deutschsprachige Studien in die weiterführenden Analysen integriert. Schließlich konnten 25 Volltexte in die Analyse aufgenommen werden. Für die Untersuchung der methodischen Qualität der Studien kam eine modifizierte Checkliste mit 11 Qualitätskriterien zum Einsatz.

Zur Erhebung von psychischer Gesundheit wurden in 21 Studien validierte Messinstrumente verwendet (SF-12, SF-36, GHQ-12, HRQOL, Kessler-10, CIDI-SF, CES-D). In 4 Studien wurden Raten wie bspw. Suizidraten oder Diagnoseraten einer Untersuchungseinheit zur Analyse herangezogen. Die Operationalisierung sozialen Kapitals stellt sich in den vorliegenden Studien sehr heterogen dar. Auf Individualebene zeigen vor allem die Teilaspekte soziale Teilhabe, soziale Kohäsion und Vertrauen signifikant negative Assoziationen zwischen Sozialkapital und Angst bzw. Sozialkapital und Depression. Auf Gesellschaftsebene zeigt vor allem Vertrauen signifikant Assoziationen mit Angst, Depression und Suizid. Ebenso zeigt die Zahl der Beschäftigten in Freiwilligenorganisationen eine signifikant negative Assoziation mit psychischer Belastung.

Insgesamt gesehen, stellt sich lediglich der Teilaspekt Vertrauen als relativ starker gesellschaftsübergreifender Faktor im Zusammenhang mit Sozialkapital dar, der unter dem Ansatz kollektiver Güter als spezifischer Aspekt in den Wirkmechanismus mit einbezogen werden kann. Hinzu kommt, dass eine homogenere Operationalisierung sozialen Kapitals im Kontext von Geschichte, Ökonomie und Gesellschaft zu allgemein gültigen Ergebnissen führen würde, welche für Gesundheits- und Sozialpolitik gewinnbringend wären. Solange Studien keine detaillierten Angaben über die Wirkungsweise zwischen psychischer Gesundheit und Teilaspekten sozialen Kapitals machen, ist eine entsprechende Entwicklung in Gesundheits- und Sozialpolitik schwierig.