Hintergrund: Mit den 1966 in Kraft getretenen Mutterschafts-Richtlinien wurde erstmalig bundesweit
ein Programm zur Schwangerenvorsorge als Regelleistung der GKV eingeführt. Die ursprüngliche
Fassung enthielt zehn Untersuchungsverfahren, die schwangeren Frauen mit durchschnittlichem
Risiko als Früherkennungsuntersuchung einmalig oder regelmäßig angeboten wurden. Bis
Ende 2011 kamen neun weitere Verfahren hinzu ohne, dass obsolete Verfahren aus dem
Programm herausgenommen wurden. Anhand der Methoden der evidenzbasierten Medizin wird
überprüft, ob die Mutterschafts-Richtlinien im Hinblick auf Treffsicherheit, Nutzen
und Risiken der Verfahren internationale Anforderungen an Früherkennungsprogramme
erfüllen.
Methodik: Alle 19 Verfahren, die bis Ende 2011 als Untersuchung zur frühzeitigen Entdeckung
von Erkrankungen oder Erkrankungsrisiken vorgesehen waren, wurden in die Analyse einbezogen.
Grundlage der Bewertungen von Treffsicherheit, Nutzen und Risiko nach einheitlichen
Kriterien ist eine systematische Literaturrecherche in der Datenbank Medline und auf
den Internetseiten relevanter Institutionen, die in den Jahren 2005/2006 durchgeführt
wurde. Im Jahr 2008 fand unter Verwendung der gleichen Suchstrategie eine erneute
Recherche und ggf. eine Aktualisierung der Bewertung statt. Der Nutzen der Verfahren
wird in Bezug auf die Zielkondition der Untersuchung operationalisiert und geht zusammen
mit den Risiken in die Bewertung der Eignung ein. Für Verfahren, deren Zielsetzung
in der Information selbst besteht, basiert die Bewertung der Eignung auf der Treffsicherheit
der Untersuchung sowie den direkten Risiken der Untersuchung.
Ergebnisse: Mehrheitlich weisen die Verfahren mindestens eine ausreichende Treffsicherheit (Sensitivität
mindestens 50% und Spezifität mindestens 90%) auf, allerdings besitzen drei Verfahren
(etwa Harnstreifentests Glukose) eine geringe Treffsicherheit und vier Verfahren eine
nicht abschätzbare Treffsicherheit (etwa Hämoglobinbestimmung)., Bei lediglich sieben
Verfahren oder Varianten von Verfahren liegt mindestens mittlere Evidenz vor, die
einen Nutzen der Untersuchung für die schwangeren Frauen oder deren Kinder belegt.
Allerdings ist nur für die Blutdruckmessung zur frühzeitigen Entdeckung einer Präeklampsie
belegt, dass gescreente Frauen oder deren Kinder bessere Outcomes haben als ungescreente
Frauen. Für die übrigen sechs Verfahren wurde indirekte Evidenz hinzugezogen, da sie
eine hohe Sensitivität von mehr als 80% aufweisen und keine direkte Evidenz zur Abschätzung
des Nutzens vorliegt. Ein Großteil der Verfahren ist mit geringen Risiken verbunden.
Bei zwei Verfahren (Amniozentese, Chorionzottenbiopsie) bestehen allerdings erhöhte
Risiken für das ungeborene Kind. Insgesamt können neun Verfahren als geeignet oder
mit Einschränkungen geeignet eingestuft werden. Dies sind insbesondere Laboruntersuchungen
(Screenings auf Hepatitis B, HIV, Lues, Rhesusinkompatibilität) und die Ultraschalluntersuchung
(Entdeckung von Hinweisen auf das Vorliegen einer ektopen Schwangerschaft, Bestimmung
des Gestationsalters, Entdeckung von Hinweisen auf fetale Anomalien). Darüber hinaus
erfüllen die Gewichtsbestimmung anhand des Ausgangs-BMI sowie die Blutdruckmessung
internationale Anforderungskriterien an Früherkennungsuntersuchungen.
Diskussion: Die Hälfte der Untersuchungen, die Frauen im Rahmen der Schwangerenvorsorge angeboten
werden, kann internationale Anforderungskriterien an Früherkennungsuntersuchungen
nicht oder nur teilweise erfüllen, da keine ausreichende Treffsicherheit vorliegt,
der Nutzen nicht belegt ist oder erhöhte Risiken bestehen., Da Eignung und Verbesserungspotenziale
bereits etablierter Verfahren nicht berücksichtigt werden, ist die Steuerung des Vorsorgeprogramms
in Bezug auf die Versorgungsqualität suboptimal. Um die Effektivität von Früherkennungsprogrammen
wie der Schwangerenvorsorge zu gewährleisten, ist eine Überprüfung und kontinuierliche
Anpassung der Programme an die wissenschaftliche Evidenzlage unter Einbeziehung aller
Verfahren erforderlich.