Gesundheitswesen 2012; 74 - A52
DOI: 10.1055/s-0032-1322038

Inkohärente Lebenswelten und Minderheitenzugehörigkeit als Determinanten gesundheitlichen Wohlbefindens im Jugendalter. Eine genderbezogene Teilauswertung der Kinder- und Jugendgesundheitsstudie (KIGGS 2008)

B Keller 1, B Szagun 1
  • 1Hochschule Ravensburg-Weingarten, Weingarten

Einleitung: Im Verlauf ihrer Entwicklung müssen Jugendliche ihre Identität ausbilden, sich gleichzeitig in dynamischen sozialen Zusammenhängen bewähren und schulischen Anforderungen genügen [1]. Während sich Abgrenzungs- und Autonomiekonflikte im elterlichen Beziehungskontext häufen, nimmt das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Akzeptanz – insbesondere zu umgebenden Peers – stetig zu [2, 3, 4]. Aggressive und dissoziale Verhaltensprobleme stellen während dieses an sich bereits sensiblen Prozesses ein zusätzliches Entwicklungsrisiko dar [5,6]. Fraglich ist, welche Gesundheitsrelevanz dem sozialen Kontext zukommt – spezieller noch dem Zusammenspiel unterschiedlicher soziodemographischer Bedingungen (Schulart, Sozialstatus, Migrationshintergrund), welche die Lebenswelt eines Jugendlichen prägen.

Methode: Die Klärung dieser Fragestellung erfolgt im Rahmen einer Sekundärdatenanalyse der KiGGS-Studie (Robert Koch-Institut, 2008). Multifaktorielle Analysen ermöglichen die Identifikation spezifischer Gruppen bei gleichzeitiger Kontrolle potentiell weiterer Einflussfaktoren. Auf Basis vorangestellter Schichtungen werden – anhand des Indikators der subjektiven Ge-sundheitseinschätzung und unter Einbeziehung relevanter soziodemographischer Faktoren – für Jungen und Mädchen logistische Regressionsmodelle mit Interaktionstermen berechnet.

Ergebnisse: Für Jungen sind externalisierende Verhaltensprobleme, insbesondere im hohen Sozialstatus, mit einer weniger guten Gesundheitseinschätzung assoziiert (OR 2,76). Bildungsauf- und -abstiege ergeben für die männlichen Jugendlichen höhere Odds Ratios hinsichtlich einer schlechteren subjektiven Gesundheit. Mädchen und Jungen mit einer im Schulverlauf bereits vorgekommenen Klassenwiederholung geben häufiger eine weniger gute Gesundheitseinschätzung an. Dies betrifft vorrangig Jugendliche aus höherer sozialer Schicht (OR Jungen 2,41/OR Mädchen 3,94). Gymnasiastinnen mit Migrationshintergrund haben verglichen mit ihrer Referenzgruppe der Nicht-Migrantinnen das höchste Risiko einer weniger guten Gesundheitseinschätzung (OR 2,6).

Diskussion: Der ansonsten vorliegende Sozialgradient in der subjektiven Gesundheitseinschätzung lässt sich bei einer differenzierten lebensweltbezogenen Analyse für spezifische Gruppen von Jugendlichen nicht nachweisen. Beeinträchtigungen im psychosozialen Wohlbefinden durch Bildungsauf- und -abstiege, Klassenwiederholungen und Ver-haltensprobleme weisen status- und genderbezogene Unterschiede im subjektiven Gesundheitszustand auf. Externalisierende Verhaltensprobleme, der Besuch einer Hauptschule und Klassenwiederholungen sind in höheren sozialen Schichten seltener die Zugehörigkeit zu einer dieser Minderheiten scheint insbesondere für die Jungen eine psychosoziale Belastung mit sich zu bringen, wobei Klassenwiederholungen auch für Mädchen aus hoher Sozialschicht mit einer weniger guten Gesundheit assoziiert sind. Für sie zeigt sich zudem der Migrationshintergrund in höherer Schulart als Problemkonstellation. Ein erhöhtes Exklusionsrisiko, fehlende Peer-Zugehörigkeit sowie status- und herkunftsabhängige Erwartungen könnten für genannte Jungen und Mädchen das geringere psychosoziale Wohlbefinden erklären. Eine herkunftsbezogene Minderheitenzugehörigkeit sowie die Inkohärenz der Lebensweltbedingungen können als gesundheitsrelevante Risikokonstellationen benannt werden und sollten in die Entwicklung zielgruppenspezifischer Gesundheitsförderungs- und Präventionskonzepte einbezogen werden.

Literatur:

[1] Erikson, E. H., 1988. Der vollständige Lebenszyklus. 1st ed. Frankfurt am Main: Suhrkamp

[2] Conzen, P., 1996. Erik H. Erikson. Leben und Werk. Stuttgart, Berlin: Kohlhammer

[3] Fend, H., 1998. Eltern und Freunde – Soziale Entwicklung im Jugendalter. Entwicklungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne. Band V. Zürich

[4] Bilz, L. Schule und psychische Gesundheit. Wiesbaden, Dresden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH Wiesbaden. (Schule und Gesellschaft 42)

[5] Hurrelmann, K., 2002. Einführung in die Sozialisationstheorie. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.

[6] Petermann, F., Helmsen, J., Koglin, U., 2009. Expansive Verhaltensstörungen. Monatsschrift Kinderheilkunde, 158(1), 22–27