Gesundheitswesen 2012; 74 - A44
DOI: 10.1055/s-0032-1322030

Bertelsmann-Böckler-Expertenkommission Betriebliche Gesundheitspolitik: Vorgeschichte, Verlauf und Folgen

W Hien 1
  • 1Forschungsbüro für Arbeit, Gesundheit und Biografie, Bremen

Schon in den 1960er und 1970er Jahren war der klassische Arbeitsschutz in eine Krise geraten. Durch eine Humanisierung des Arbeitslebens sollte dem arbeitsbedingten Gesundheitsverschleiß entgegengewirkt werden. Inspiriert durch die italienische Arbeitermedizin entstanden Ideen eines betrieblichen Gesundheitskampfes und – in sozialpartnerschaftlich regulierter Form – einer betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF), die auf eine Aktivierung der Betroffenen abzielte. Große Beachtung fanden die Kämpfe der Bremer Vulkan-Belegschaft gegen das Asbest in den 1970ern und die Auseinandersetzungen der IG Metall Baden-Württemberg um Kühlschmierstoffe und Lösemittel in den 1980er Jahren, die unter dem Motto „Tatort Betrieb“ bekannt wurden. Dass ökonomische Interessen der Gesundheit der Arbeitenden entgegenstanden, war zu dieser Zeit eine allgemein akzeptierte und auch für jeden nachvollziehbare Erkenntnis. In den 1980er und 1990er Jahren schuf die europäische und deutsche Reformbürokratie den rechtlichen Rahmen für eine Kompromisslinie, die sie betrieblich umzusetzen hoffte. Ökonomie und Gesundheit sollten von nun an konvergierende Interessen sein.

Vor diesem Hintergrund entwickelte sich eine vom Arbeitsschutz teilweise entkoppelte BGF-Bewegung mit ihrem theoretischen Zentrum der „Bielefelder Schule“. Mit dem Slogan „gesunde Mitarbeiter – gesunde Unternehmen – gesunde Wirtschaft“ wurde 2002 eine von der Bertelsmann- und Hans-Böckler-Stiftung gemeinsam getragene Expertenkommission „Betriebliche Gesundheitspolitik“ initiiert. Ein Teil der darin versammelten Experten sprach sich explizit gegen staatliche Eingriffe und auch explizit gegen eine staatliche Kontrolle des Arbeitsschutzes aus und hypostasierte die „Eigenverantwortung“ zu einem neuen, übergreifenden Konzept. Ein anderer Teil insistierte auf Humanisierung der Arbeitsbedingungen und sozialstaatliche Regulation. Der DGB-Vertreter beklagte die nach wie vor gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen in der Mehrzahl der Betrieb und wies auf die Gefahr hin, mit einer Konzeption der Eigenverantwortung den Betroffenen auch noch die Schuld an arbeitsbedingten Erkrankungen in die Schuhe zu schieben. Die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) war zwar Mitglied der Kommission, sie enthielt sich aber weitgehend einer inhaltlichen Stellungnahme. Den Abschlussbericht trug sie in wesentlichen Teilen nicht mit.

Welche Wirkung hatte der 2004 vorgelegte Bericht der Expertenkommission? In Vorgeschichte und Verlauf war die spätere Bedeutungslosigkeit gleichsam präjudiziert. In den beteiligten Verbänden verbreitete sich der Bericht nur zögerlich, um dann endgültig in der Versenkung zu verschwinden. Die finanzierenden Stiftungen blieben auf Tausenden von Exemplaren sitzen. Eingang fand der Bericht lediglich in der Hochschullandschaft. In der betrieblichen Sphäre wurde der Bericht kaum zur Kenntnis genommen. In der Bilanz ist festzustellen: Angesichts weiterhin hoher, vor allem psychischer Arbeitsbelastungen bleibt der Konflikt zwischen Ökonomie und Gesundheit ungelöst und muss beim genauen Hinsehen in manchen Bereichen als eher verschärft denn entschärft eingeschätzt werden. Als konfundierendes Moment kommt eine – die real existierende BGF/BGM als Transmissionsriemen nutzende – Kolonisierung der Sprache mit realitätsverzerrenden Begrifflichkeiten hinzu. Bestimmte Unternehmen scheinen eine Art kulturelle Hegemonie anzustreben. Es sei die Hypothese gewagt, dass sich die problematischen Arbeits- und Gesundheitsverhältnisse mittel- und langfristig nur auf der Basis einer von den Arbeitenden selbst getragenen Bewegung aufbrechen und verändern lassen.

Literatur:

Bertelsmann Stiftung/Hans-Böckler-Stiftung: Zukunftsfähige betriebliche Gesundheitspolitik. Vorschläge der Expertenkommission. Gütersloh 2004.