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DOI: 10.1055/s-0032-1322020
Beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartnern in der gesetzlichen Krankenversicherung: Reformbedürftig aber reformresistent?
Einleitung/Hintergrund: Im System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) besteht grundsätzlich die Möglichkeit der beitragsfreien Mitversicherung von Familienangehörigen wie Kindern und Ehepartnern. Bei letzteren handelt es sich hauptsächlich um Frauen. Während die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern gesellschaftlich als weitgehend akzeptiert und gewünscht gilt, steht diese im Fall von Ehepartnern bereits seit geraumer Zeit in der Kritik denn Ehen, in denen nur ein Ehepartner erwerbstätig ist, werden gegenüber Ehen mit zwei erwerbstätigen Ehepartnern begünstigt. Diese Art der interfamiliären Solidarität zeigt zunehmend negative Auswirkungen auf die Erwerbs- und Lebensverläufe von (Ehe-) Frauen. Trotz dieser Erkenntnisse wurde die Familienversicherung bislang nicht reformiert. Das Aufdecken von möglichen Reformhindernissen war Ziel der vorliegenden Untersuchung.
Daten und Methoden: Mit explorativer Zielsetzung wurden Leitfaden gestützte Interviews mit 5 Experten aus den Bereichen Gesundheits-, Sozial- und Wirtschaftspolitik, Arbeitsmarkt- und Geschlechterforschung sowie Public Health durchgeführt. Die Auswahl erfolgte zudem unter Berücksichtigung von Gender-Aspekten (2 weibliche, 3männliche Experten). Die durchschnittlich 25-minütigen face-to-face Interviews wurden auf Tonträger aufgezeichnet, anschließend wörtlich transkribiert und mittels qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet.
Ergebnisse: Die Reformhindernisse wurden den Kategorien „traditionelles Familienmodell der Entscheidungsträger“, „bestehende Arbeitsmarktstrukturen“, „Beharrlichkeit des Status quo“ und „hohe Zustimmung zur sog. beitragsfreien Familienversicherung bei Bevölkerungsumfragen“ zugeordnet: Solange Entscheidungsträger eigene Lebensentwürfe durch bestehende Regelungen bestätigt sehen oder sogar davon profitieren und solange politische Arbeitsmarktstrategien eher die Ausweitung von Niedriglöhnen und Minijobs verfolgen als (Ehe-)Frauen Chancen auf eine eigene Existenzsicherung zu eröffnen, könne der Beharrlichkeit des Status quo nur wenig entgegengesetzt werden. Dazu komme, dass bei Bevölkerungsumfragen aufgrund der Komplexität des Sachverhalts mit einer Verzerrung der Ergebnisse zu rechnen sei: Die breite Akzeptanz der „beitragsfreien Familienversicherung“ sei meist der Zustimmung hinsichtlich der Mitversicherung von Kindern geschuldet, nicht von Ehepartnern.
Diskussion/Schlussfolgerungen: Durch die Familienversicherung in der GKV in ihrer derzeitigen Ausgestaltung wird die traditionelle Allein- oder Zuverdiener-Ehe entlastet. Dies ist historisch ableitbar, entspricht aber nicht mehr der Realität der heutigen Lebensformen. Die Interviews zeigten, dass einer Reform zahlreiche Hindernisse entgegenstehen. Die gebildeten Kategorien erwiesen sich als aufschlussreich, sollten jedoch einer vertieften qualitativen Analyse unterzogen werden, z.B. mittels Fokusgruppen. Bei einer Reform sind die in der Charta von Tallinn der Weltgesundheitsorganisation (WHO) proklamierten Werte Solidarität, Chancengleichheit und Teilhabe stärker zu berücksichtigen.
Literatur:
Andel N, Verteilungswirkungen der Sozialversicherung am Beispiel der gesetzlichen Krankenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Dreißig W (Hrsg.), Öffentliche Finanzwissenschaft und Verteilung, 1975, S. 39–82
Böcken J, Amhof R, Finanzierungsoptionen des Gesundheitswesens aus Bevölkerungssicht, in: Böcken J, Braun B, Schnee M, Amhof R (Hrsg.), Gesundheitsmonitor 2005, Bertelsmann-Stiftung, S. 120–136
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Neue Wege – gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf, 2011
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World Health Organization (WHO), Die Charta von Tallinn: Gesundheitssysteme für Gesundheit und Wohlstand, 2008
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