Gesundheitswesen 2012; 74 - A18
DOI: 10.1055/s-0032-1322004

Sehbeeinträchtigungen als Risikofaktor für Stürze: Eine empirische Untersuchung

N Bucholtz 1
  • 1Privates Institut für angewandte Versorgungsforschung, Berlin

Einleitung/Hintergrund: Jeder Dritte der über 65-Jährigen stürzt mindestens einmal jährlich. Die Folgen können die Gesundheit und Selbständigkeit erheblich bedrohen. Insbesondere hüftgelenksnahe Frakturen sind mit einem hohen Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko verbunden. Bisher gibt es in Deutschland jedoch keine umfassende Versorgungsforschungsstudie, die die Bedeutung der augenärztlichen Versorgung zur Vermeidung von Stürzen untersucht hat. Dabei hat sich eine Beeinträchtigung der Sehfähigkeit als ein intrinsischer Risikofaktor für Stürze herausgestellt. Inwieweit augenärztliche Maßnahmen das Sturzrisiko minimieren, wurde allerdings noch nicht isoliert analysiert. Allerdings wird angenommen, dass diese eine Risikominimierung zumindest positiv verstärken. Gleichzeitig weist die ambulante augenärztliche Versorgung insbesondere von Pflegebedürftigen große Lücken auf. Unter der Annahme, dass eine augenärztliche Betreuung das Sturzrisiko minimiert, ist die Versorgungssituation von Pflegebedürftigen auch angesichts einer Sturzprävention unzureichend. Ziel dieser Studie ist daher eine Analyse des Zusammenhangs zwischen Sehfähigkeit, augenärztlicher Versorgungssituation und Sturzereignissen.

Daten/Methoden: Im Rahmen einer Versorgungsforschungsstudie wurden 2011 405 strukturierte Interviews mit Personen im Alter zwischen 60 und 106 Jahren geführt. Die Stichprobe umfasst Seniorenheimbewohner und Personen, die selbständig leben. Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen wurden ausgeschlossen. Neben Angaben zur Pflegestufe wurden die Personen zum augenärztlichen Versorgungsbedarf (Augenerkrankungen, subjektive Einschätzung der Sehfähigkeit beim Lesen/in die Ferne) und zur Versorgungssituation (regelmäßiger vs. unregelmäßiger Augenarztbesuch) befragt. Zudem wurden die Sturzhäufigkeit im vergangenen Jahr und die Ursachen für die Stürze erfasst. Schließlich wurden die Teilnehmer um eine Einschätzung des Sturzrisikos durch eine Sehbeeinträchtigung gebeten.

Ergebnisse: 43,5% der Befragten stürzten im vergangenen Jahr mindestens einmal. Personen mit Augenerkrankungen berichten signifikant häufiger über ein Sturzereignis als Personen ohne Augenerkrankungen (χ2=9,57, df=1, p=0,002). Unter den Personen mit Augenerkrankungen waren Seniorenheimbewohner im Unterschied zu selbständig lebenden Personen häufiger von einem Sturzereignis betroffen (χ2=7,59, df=1, p=0,002). Zur Vorhersage der absoluten Sturzhäufigkeit erweisen sich die Regelmäßigkeit eines Augenarztbesuches (B(SE)=0,35, p<0,05) und die Einschätzung der Sehfähigkeit beim Lesen (B(SE)=0,22, p<0,05) als signifikante Prädiktoren, wobei regelmäßige Augenarztbesuche und bessere Einschätzungen der Lesefähigkeit mit weniger Sturzereignissen assoziiert sind. Die Betroffenen selbst nehmen eine Sehbeeinträchtigung als Sturzrisiko wahr: 13,0% der Befragten geben diese als Sturzursache an. Der Aussage, dass man seltener würde, wenn man besser sehen könnte, stimmen 21,6% zu, wobei unregelmäßige Augenarztbesuche mit einer stärkeren Zustimmung assoziiert sind (r=0,13, p=0,04). Auch Personen, die noch nie stürzten, sehen einen Zusammenhang zwischen Sehbeeinträchtigung und Sturzrisiko: 41,2% stimmen zu, dass eine eingeschränkte Sehfähigkeit zu einem erhöhten Sturzrisiko führt.

Diskussion: Die Ergebnisse bestätigen, dass Augenerkrankungen mit einem signifikant höheren Sturzrisiko assoziiert sind, insbesondere bei Seniorenheimbewohnern. Zudem zeigt sich, dass bei Personen, die über regelmäßige Augenarztbesuche berichten, weniger Sturzereignisse vorliegen und das Sturzrisiko durch eine Sehbeeinträchtigung geringer eingeschätzt wird. Eine regelmäßige augenärztliche Versorgung kann somit einen wichtigen Beitrag zur Sturzvermeidung leisten. Gerade vor diesem Hintergrund sollte die Augenheilkunde als geriatrisches Fach im Sinne einer primärärztlichen Versorgung verstanden werden, bei dem eine flächendeckende Versorgung gewährleistet werden muss. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass es sich um die subjektive Sichtweise der Bewohner handelt. Zudem wurden kognitiv beeinträchtige Personen nicht befragt. Da Personen mit Demenz jedoch besonders häufig von Sturzereignissen betroffen sind, sollten diese in zukünftigen Studien berücksichtigt werden.