Fortschr Neurol Psychiatr 2012; 80(6): 311
DOI: 10.1055/s-0032-1312871
Editorial
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Frontotemporale Demenz und amyotrophe Lateralsklerose – zwei Enden eines phänotypischen Spektrums

Frontotemporal Dementia and Amyotrophic Lateral Sclerosis – Two Ends of the Same Phenotypical Spectrum
M. Dieterich
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Publication Date:
29 May 2012 (online)

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Alterung der Gesellschaft nehmen die neurodegenerativen Erkrankungen an Bedeutung zu. Gleichzeitig wächst die Notwendigkeit, die zugrunde liegenden Mechanismen eingehender zu verstehen, um kausale Therapieoptionen entwickeln zu können, die die Krankheitsprogression verzögern oder aufhalten können. Neuropathologische Studien lieferten kürzlich den molekularen Beweis, dass die frontotemporale Lobärdegeneration (FTLD) und die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) die beiden Enden des gleichen phänotypischen Spektrums darstellen [1]. Die Identifizierung des TDP-43-Proteins als Hauptbestandteil der neuronalen Proteinablagerungen bei 60 % der frontotemporalen Demenzen und bei 90 % der ALS-Fälle hat zu einer neuen Klassifizierung dieser Erkrankungen als „TDP-43-Proteinopathien“ geführt.

Genetisch bedingte neurodegenerative Erkrankungen mit TDP-43-Ablagerungen, die zwar zu den seltenen Erkrankungen zählen, rücken derzeit in den Fokus, da hier ein definierter Proteindefekt vorliegt, der modellhaft von Bedeutung für häufigere Erkrankungen aus dem neurodegenerativen Formenkreis ist und der gezielt untersucht werden kann. Ganz aktuell stehen Multisystem-Erkrankungen im besonderen Interesse der Forschungsanstrengungen, die mit autosomal-dominant vererbten Mutationen im Valosin-containing-protein(VCP)-Gen einhergehen und die auch eine Aggregation und gestörte Lokalisation von TDP-43 u. a. in Neuronen zeigen.

VCP hat eine Schlüsselrolle bei der Proteinqualitätskontrolle und beim Proteinabbau. So vielfältig wie die Funktionen des VCP-Proteins in der Zelle sind, so zahlreich sind die Krankheitsentitäten, die sich auf dem Boden von VCP-Mutationen entwickeln. Hierzu gehört nicht nur das autosomal-dominante Syndrom der Einschlusskörpermyopathie mit össärem Morbus Paget und frontotemporaler Demenz (IBMPFD) [2], sondern interessanterweise auch eine Form der familiären ALS. Somit wird das VCP-assoziierte Phänotyp-Spektrum aktuell im Hinblick auf die degenerativen Motoneuronerkrankungen erweitert [3].

In diesem Heft wird in einer Kasuistik das seltene, aber sehr charakteristische Syndrom der IBMPFD in einer deutschen Familie von Ponfick und Mitarbeitern vorgestellt. Als wichtiges Fazit für die klinische Praxis zeigt sich die große Bedeutung einer molekulargenetischen diagnostischen Einordnung, um die betroffenen Patienten und ihre Familien adäquat beraten und versorgen zu können. Des Weiteren kann durch eine optimale symptomatische Therapie, physiotherapeutische Maßnahmen und eine angepasste Hilfsmittelversorgung die Lebensqualität der Patienten wesentlich verbessert werden. Im Hinblick auf die häufige Beteiligung der Herz- und Atemmuskulatur bei einer Reihe von erblichen und erworbenen neuromuskulären Erkrankungen kann die intermittierende nicht invasive Beatmung die Lebenserwartung bei progressiver Einschränkung der Atemhilfsmuskulatur deutlich verbessern. Die individuell abgestimmte präventive kardiologische Versorgung kann beispielsweise bei einer Reihe von Myopathien und bei der IBMPFD wesentlich zur Verlängerung der Lebenserwartung beitragen.

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Prof. Dr. med. M. Dieterich
 
  • Literatur

  • 1 Neumann M, Sampathu DM, Kwong LK et al. Ubiquitinated TDP-43 in frontotemporal lobar degeneration and amyotrophic lateral sclerosis. Science 2006; 314: 130-133
  • 2 Nalbandian A, Donkervoort S, Dec E et al. The multiple faces of valosin-containing protein-associated diseases: inclusion body myopathy with Paget‘s disease of bone, frontotemporal dementia, and amyotrophic lateral sclerosis. J Mol Neurosci 2011; 45: 522-531
  • 3 Johnson JO, Mandrioli J, Benatar M et al. Exome sequencing reveals VCP mutations as a cause of familial ALS. Neuron 2010; 68: 857-864