Gesundheitswesen 2012; 74 - V38
DOI: 10.1055/s-0032-1307302

Kindliche Ingestionsunfälle im häuslichen Umfeld

B Plenert 1, H Hentschel 1
  • 1Gemeinsames Giftinformationszentrum (GGIZ) der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, Erfurt

Hintergrund: Kinder, insbesondere Kleinkinder zwischen dem ersten und vierten Lebensjahr, sind von häuslichen Ingestionsunfällen überdurchschnittlich häufig betroffen. Der Hauptgrund ist das natürliche Erkundungsverhalten in dieser Altersgruppe, bei dem auch fast alles mit dem Mund „untersucht“ wird. Einerseits verleitet die Gestaltung (Farbe, Form, Duft) von chemisch-technischen Erzeugnissen und Gebrauchsgegenständen zum „Kosten“. Andererseits wird das Verhalten der Erwachsenen nachgeahmt. (z.B. beim „Doktorspiel“). Eine für Kinder leicht zugängliche Lagerung der Produkte (z.B. Unterschränke in Küche, Bad und Toilette) begünstigt häufig Ingestionsunfälle. Während im Kleinkindalter Arzneimittel, Wasch-, Reinigungs- und Putzmittel, Kosmetika, Bedarfsgegenstände und Pflanzen als Unfallursache im Vordergrund stehen, wechselt das Spektrum im Schul- und Jugendalter zunehmend zu Vergiftungen mit Arzneimitteln und Drogen. In dieser Altersgruppe kommt es bereits häufiger zu (para-) suizidalen Handlungen oder auch zur missbräuchlichen Verwendung von Produkten (Treibgasinhalation). Exakte Zahlenangaben der jährlichen Vergiftungsfälle im Kindesalter fehlen, weil es keine umfassende Meldepflicht für die behandelnden Ärzte gibt. Sehr unvollständige Meldungen erhält das Bundesinstitut für Risikobewertung gemäß §16 e Chemikaliengesetz über Vergiftungen mit Chemikalien und chemischen Produkten, Kosmetika, Pflanzenschutz-, Schädlingsbekämpfung- und Holzschutzmitteln sowie Umweltchemikalien. Schätzungen der deutschen Giftinformationszentren gehen von jährlich insgesamt 100.000 Fällen im Kindesalter aus, davon 10.000 Vergiftungen (10%), darunter 500 vital bedrohliche Fälle (5%) und 20 bis 40 Todesfälle (0,2–0,4%).

Eigene Daten: Der Giftnotruf in Erfurt versorgt vier Bundesländer mit 10.361.835 Millionen Einwohnern (Stand 31.12.2010). Im Jahr 2010 wurden in diesem Einzugsgebiet insgesamt 11.336 Vergiftungs- und Verdachtsfälle (Expositionen) beraten, davon 5.864 Fälle (51,7%) bei Kindern (Altersgruppen-Verteilung: Kind NN 77 1,3%; Baby 804 13,7%; Kleinkind 4119 70,2%; Schulkind 531 9,1%; Jugendlicher 333 5,7%). Dabei handelte es sich um 5.347 Vergiftungsunfälle (91,2%), von denen sich 4.644 Fälle (79,2%) im häuslichen Umfeld ereigneten. Das Vergiftungsrisiko zum Zeitpunkt der ersten Anfrage wurde bei diesen Unfällen in der Häuslichkeit in 1.589 Fällen (34,2%) als gering, in 111 Fällen (2,4%) als moderat und in 61 Fällen (1,3%) als lebensgefährlich eingeschätzt. In der Mehrzahl der Fälle wurde die Ingestion als ungefährlich eingeschätzt (2.244 Fälle; 48,3%) oder es bestand kein Zusammenhang zwischen der vermeintlichen Ingestion und der Symptomatik des Kindes (102 Fälle; 2,2%). Die Gefährdung der restlichen Fälle (537; 11,6%) war zum Zeitpunkt der ersten Anfrage nicht sicher einschätzbar. Die potenziell lebensbedrohlichen Fälle konzentrierten sich auf folgende Noxengruppen: Arzneimittel 31 (50,8%), Zünd-/Brenn-/Deko-/Raumluftmittel 8 (13,1%), Lebensmittel 6 (9,8%), Reinigungs-/Putz-/Pflegemittel 5 (8,2%), Tabakerzeugnisse 3 (4,9%). Es kam zu einem Todesfall (GGIZ 201004702– Hydromorphon-Intoxikation bei einem sechs Jahre alten Mädchen).

Schlussfolgerungen: Aufgrund der Daten des Erfurter Giftinformationszentrums besteht für Kleinkinder eine besondere Gefährdung durch Vergiftungsunfälle im häuslichen Umfeld. Durch die telefonische Beratung der Eltern und anderer Angehöriger kann die Situation rasch geklärt werden. In der Hälfte der Fälle kann Entwarnung gegeben werden, sodass eine Arztvorstellung oder die Einschaltung des Rettungsdienstes unterbleiben können. Den Kindern werden in diesen Fällen unnötige diagnostische und therapeutische Maßnahmen erspart. Wichtig ist, dass immer zuerst angerufen wird, wenn dass Kind symptomlos ist, um gefährliche Manöver (Kochsalzerbrechen) zu vermeiden. Bei für den Laien erkennbarer Lebensgefahr (Störungen von Atmung, Herz-Kreislauf und Bewusstsein) sollte jedoch umgehend ein Notruf 112 abgesetzt werden.