Rehabilitation (Stuttg) 2012; 51(02): 71-72
DOI: 10.1055/s-0032-1306329
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Priorisierung: (k)ein Thema für die Rehabilitation?

Priority Setting: (Not) an Issue for Rehabilitation?
O. Mittag
,
W. H. Jäckel
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
08. Mai 2012 (online)

Priorisierung klingt längst nicht so garstig wie Rationierung. Und in der Tat, Priorisierung meint auch etwas grundlegend anderes als Rationierung. Während Letzteres das (systematische) Vorenthalten einer an sich wirksamen und nützlichen Leistung aus Knappheitsgründen bedeutet, versteht man unter Priorisierung in der Medizin die „ausdrückliche Feststellung der Vorrangigkeit bestimmter Untersuchungs- und Behandlungsmethoden vor anderen“ ([1], S. 3). Das scheint vernünftig. Trotzdem ist das Thema kontrovers, auch (wie die Beiträge in diesem Schwerpunktheft zeigen) im Bereich der rehabilitativen Versorgung.

In diesem Schwerpunktheft wird die Frage der Priorisierung von Rehabilitationsleistungen aus wissenschaftlicher, ethischer und (sozial)rechtlicher Sicht, aus der Perspektive von Rehabilita­tionsträgern und Verbänden sowie vom Standpunkt der Klinik aus beleuchtet. Unser Ziel war, eine Momentaufnahme der gegenwärtigen Diskussion zu diesem Thema in Deutschland zu erreichen. Darüber hinaus gibt es in diesem Heft eine Premiere: In der neuen Rubrik „Pro & Con­tra“ sollen jeweils konträre Stellungnahmen zu einzelnen Themen rund um die Rehabilitation gegenübergestellt werden. Dafür eignet sich das Thema „Priorisierung“ in besonderer Weise, und Heiner Raspe (Pro) und Harry Fuchs (Contra) sind prädestiniert, diese neue Rubrik zu eröffnen.

In ihrem einleitenden Beitrag geben Thorsten Meyer und Heiner Raspe einen Abriss der Geschichte der Priorisierungsidee und ihrer Umsetzung insbesondere im skandinavischen Raum, und sie stellen die aktuelle Diskussion in Deutschland dar. Wie Priorisierung in der Praxis funktionieren kann, zeigen sie dann am Beispiel der Nationalen Leitlinie zur Versorgung kardiologischer Patienten in Schweden, wo die Entwicklung der Priorisierung am weitesten fortgeschritten ist. Im engeren Bereich der Rehabilitation ist die Idee der Priorisierung allerdings, nicht nur in Deutschland, ein bislang wenig beachtetes Thema.

Rolf Buschmann-Steinhage nimmt in seinem Beitrag eine Bestandsaufnahme der gegebenen Rahmenbedingungen in der Rehabilitation vor. Der Bedarf an Rehaleistungen wird absehbar steigen, andererseits sind die Ausgaben (zumindest der Rentenversicherung als dem größten Kostenträger) durch ein gesetzlich festgelegtes Reha-Budget gedeckelt. Vor diesem Hintergrund werden die Positionen der verschiedenen Akteure (Rentenversicherung, Politik, Sozialpartner, Leistungserbringer) dargestellt. Ein Kernproblem ist: Die Aufwendungen für Rehabilitation sind leicht messbar, die Qualität der Leistungen und deren Wirksamkeit dagegen deutlich weniger gut. Das erschwert die Argumentation gegen eine Priorisierung in der Rehabilitation.

In Deutschland besteht ein Rechtsanspruch auf Leistungen zur Rehabilitation. Felix Welti zeigt vor diesem Hintergrund die engen Grenzen auf, die Bestrebungen zur Priorisierung von Leistungen gezogen sind. Rehabedarf ist eine Frage von „ja“ oder „nein“. Entscheidendes Kriterium ist die selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 1 SGB IX). Aber: Wie steht es mit der Prioritätensetzung zwischen Rehabilitation und Akutbehandlung? Und ist Rehabedarf tatsächlich eine feststehende Größe? Es stellt sich die Frage, ob es bei bestimmten Pro­blemlagen (z. B. Rückenschmerzen) eine Überversorgung gibt, während andere reharelevante Erkrankungen vernachlässigt werden (vertikale Priorisierung). Und bieten nicht auch Kriterien wie Funktionsfähigkeit oder Teilhabe genügend Ansatzpunkte für Stellschrauben, die den Zugang zu Rehaleistungen priorisieren könnten?

Giovanni Maio warnt in seinem Beitrag vor einer Überbetonung eines rein utilitaristischen Denkens, das sich dem Kranken immer mehr mit ­einer monetär berechnenden Brille nähert. Das trifft eher die Bestrebungen zur Einschränkung von Leistungen aus Knappheitsgründen (Rationierung), während das Prinzip der Kosteneffizienz bei Priorisierungsbestrebungen eher nachgeordnet ist [2]. Aber Maio warnt auch, die Politik solle aufgeben, den Bürgern zu versprechen, dass sie alles nur Erdenkliche von der Medizin erwarten dürfen. Eine gute Medizin ist nicht diejenige, die für alle alles anbietet, ohne Rücksicht auf Wirksamkeit, Dringlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Das wäre im Gegenteil eine schlechte Medizin.

Zwei Beiträge in diesem Schwerpunktheft nähern sich dem Thema aus trägerübergreifender Sicht. Die Akzente sind dabei unterschiedlich gesetzt. Wolfgang Cibis vollzieht die (kurze) Geschichte der Priorisierungsdebatte im deutschen Rehawesen nach und systematisiert die wesentlichen Stellgrößen, die für eine Priorisierung in der Reha geeignet sein könnten (z. B. Indikation, Rehabedarf, Art und Umfang der Leistung). Er wägt die Risiken und Chancen einer Priorisierung in der Rehabilitation ab und rät an, zunächst den Ausgang der Debatten im Ausland zu beobachten. Wolfgang Seger stellt dem ein erfrischend herzhaftes „Ja“ zu einer (ergebnis)offenen Diskussion über Priorisierung in der Reha entgegen. Priorisierung bietet große Chancen für eine Weiterentwicklung des Gesundheitssystems in Deutschland, und zwar zum Wohle der Bürger (Patienten).

Die Perspektive der Klinik stellt Claus Wallesch am Beispiel der neurologischen Rehabilitation dar. Nicht nur dort wird das (überwiegend) stationäre Versorgungsmodell in Deutschland seine Effizienz im Vergleich zu anderen Versorgungsformen nachweisen müssen. Es wird zu einer Ausweitung ambulanter Maßnahmen kommen, die eher auf singuläre Problemlagen und Interventionen fokussieren. Nicht jeder Rehabilitand braucht die gesamte Bandbreite des multidisziplinären Teams. Priorisierung könnte so auch zu einer Flexibilisierung der Rehabilitation hinsichtlich der Dauer und des Versorgungsspektrums in Deutschland beitragen (vgl. auch [3] [4]).

Die hier vorliegenden Beiträge bilden viele Facetten der Diskussion um Priorisierung in der Medizin im Allgemeinen und in der Rehabilitation im Besonderen ab. Sie zeigen aber auch die Schwierigkeiten, sich dem (scheinbar) heiklen Thema zu nähern, und sind von teilweise großer Unsicherheit geprägt. Da haben Länder, in denen bereits eine jahrzehntelange Priorisierungsdiskussion geführt wird, es leichter. Einigkeit besteht in den Beiträgen aber dahingehend, dass Priorisierung rechtliche Bindung, demokratische Legitimierung und vor allem Transparenz verlangt. Deutlich wird auch, dass unterschieden werden muss zwischen Priorisierung von Reha (horizontal) und Priorisierung in der Reha (vertikal). Beides erfordert noch große Forschungsanstrengungen in Deutschland, wenn wir nicht weiterhin notgedrungen auf Evidenz aus internationalen Studien ­zurückgreifen wollen, die sich auf andere Versorgungsmodelle beziehen [5].

Was in diesem Schwerpunktheft fehlt, ist die Perspektive der Politik (die sich schwertut mit dem Thema) und die der betroffenen Bürger. Dass eine sinnvolle und erfolgreiche Bürgerdiskus­sion des komplexen Themas „Priorisierung in der Medizin“ möglich ist, hat ein aktuelles Projekt eindrucksvoll gezeigt. Eine Gruppe von Lübeckern und Lübeckerinnen im Alter zwischen 20 und 76 Jahren mit unterschiedlichem Bildungshintergrund und aus ganz unterschiedlichen Berufen haben sich in der ersten Jahreshälfte 2010 an 4 Wochenenden zu einer Bürgerkonferenz getroffen. Sie haben unter der Leitung von Heiner Raspe und mit Unterstützung von Moderatoren sachlich und kontrovers diskutiert, sie haben Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten gehört, und sie haben schließlich gemeinschaftlich ein Bürgervotum zur Prioritätensetzung in der medizinischen Versorgung formuliert. Aus diesem Bürgervotum soll hier abschließend zitiert werden:

„Priorisierung schafft Transparenz und dadurch Vertrauen in unser Gesundheitssystem. Priorisierung beruht auf Grundwerten und Kriterien. Grundwerte sind Menschenwürde, Gleichheit, Solidarität, Effizienz, Information, Transparenz und Selbstbestimmung. … Kriterien zur Priorisierung sind: Lebenserhaltung und Dringlichkeit der Behandlung, bedarfsgerechte Verteilung, Wartezeit, Patientenwille, Lebensqualität, Kosteneffizienz, Innovation und Fortschritt in der Medizin, Nachweisbarkeit der Wirksamkeit. … Die Politik sollte eine breite Priorisierungsdebatte anstoßen und begleiten …“([6], S. 13 f.).

Wir wünschen uns, dass dieses Heft Impulse für eine Priorisierungsdiskussion in der Rehabilitation liefert, und wir sind auf den Verlauf gespannt.

 
  • Literatur

  • 1 Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – Langfassung. 2007 verfügbar unter http://www.zentrale-ethikkommission.de/page.asp?his=0.1.53 (aufgerufen 5.1.2012)
  • 2 Raspe H, Meyer T. Priorisierung: Vom schwedischen Vorbild lernen. Deutsches Ärzteblatt 2009; 106 (21) A1036-A1039
  • 3 Gerdes N, Blindow D, Follert P et al. „Stellschrauben“ des Zugangs zur Rehabilitation: Lösungsmöglichkeiten für das prognostizierte Budgetproblem der Rehabilitation durch die Gesetzliche Rentenversicherung. Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2003; 13: 330-338
  • 4 Mittag O, Raspe H. Unterschiedliche Problemprofile bei Rehaantragstellern mit Rückenschmerzen: Überlegungen zur gestuften Versorgung in der medizinischen Rehabilitation. Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation 2007; 77: 194-198
  • 5 Mittag O. Evidenzbasierung der medizinischen Rehabilitation (in Deutschland). Public Health Forum 2011; 19 (73) 4-6
  • 6 Bürgerkonferenz Lübeck . Bürgervotum zur Prioritätensetzung in der medizinischen Versorgung. Broschüre. Lübeck: Institut für Sozialmedizin der Universität zu Lübeck; 2010