Psychiatr Prax 2012; 39(03): 106-108
DOI: 10.1055/s-0032-1304856
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die ambulante Soziotherapie nach § 37a SGB V ist gescheitert

Outpatient Sociotherapy According to German Code of Social Law V Failed
Wulf Rössler (Pro)
,
Heiner Melchinger (Pro)
,
Sibylle Schreckling (Kontra)
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Publication History

Publication Date:
30 March 2012 (online)

Pro

Die Unzulänglichkeiten des gegliederten Systems der sozialen Sicherung in Deutschland schlagen sich insbesondere bei der Behandlung und Betreuung psychisch kranker Menschen nieder. Der Entstehungszusammenhang im Hinblick auf die ambulante Soziotherapie nach § 37a SGB V ist hierfür ein klassisches Lehrbeispiel.

Die 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts waren vor dem Hintergrund der großen Psychiatrie-Modellprogramme der 70er- und 80er-Jahre zunächst von einer gewissen Erschöpfung im Hinblick auf die Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung geprägt. Gleichwohl setzte sich langsam die Erkenntnis durch, dass neben dem Aufbau von Sonderinstitutionen wie sozialpsychiatrischen Diensten und psychiatrischen Institutsambulanzen zur Versorgung schwerer psychisch Kranker mit komplexem Versorgungsbedarf auch die medizinische Regelversorgung gestärkt werden müsste.

Ambulante Soziotherapie sollte der Testfall werden. Der Grundgedanke der ambulanten Soziotherapie war, niedergelassenen Nervenärzten/Psychiatern die Möglichkeit zu geben, unter Einbezug von Soziotherapeuten auf die Bedarfe von Patienten zugeschnittene Komplexleistungen in ihr Behandlungsprogramm zu integrieren.

Der gesetzlichen Verankerung von Soziotherapie ging ein vom Bundesministerium für Gesundheit initiiertes und in Trägerschaft der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen durchgeführtes Modellprojekt „Ambulante Rehabilitation psychisch Kranker“ voraus. Die beteiligten Krankenkassen waren von Beginn an eher widerstrebend, einen solchen Modellversuch durchzuführen. So wehrte sich der Bundesverband der AOK dagegen, dass die Krankenkassen alleine mit der Finanzierung von Soziotherapie belastet werden sollten. Für die damalige Vorstandsvorsitzende der AOK Niedersachen war Soziotherapie der Versuch einer Verlagerung von Leistungen der öffentlichen Hand zulasten der Krankenkassen.

In dem 3-jährigen Modellprojekt konnte der Nachweis geliefert werden, dass Soziotherapie ein praktikables und wirksames Instrument zur Rezidivprophylaxe darstellt. Es konnte auch belegt werden (soweit dies in einem Projekt mit nur 3-jähriger Laufzeit möglich ist), dass den Ausgaben für Soziotherapie ganz erhebliche Einsparungen an stationären Behandlungskosten gegenüberstehen [1].

Soziotherapie sollte im Rahmen des Gesamtpakets der Gesundheitsreform 2000 gesetzlich verankert werden. Für viele überraschend tauchte aber Soziotherapie im Referentenentwurf zur Gesundheitsreform 2000 nicht auf. Durch Intervention auf verschiedenen politischen Ebenen wurde Soziotherapie in letzter Minute doch noch als § 37 a SGB V in den Gesetzentwurf aufgenommen. Es dauerte 2 Jahre bis nach einem quälend langen Diskussionsprozess die Durchführungsrichtlinien zu diesem Gesetz vorlagen. Mit Wirkung zum 1. Januar 2002 war damit Soziotherapie endgültig verordnungsfähig.

Durch die Durchführungsrichtlinien und durch die nachfolgenden „Begutachtungsrichtlinien Ambulante Soziotherapie“ des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zieht sich wie ein roter Faden das Bemühen, den Umfang der Soziotherapie-Verordnungen möglichst gering zu halten und Leistungen auszuschließen, die der Leistungspflicht der Sozialhilfe oder anderer Kostenträger zugeordnet werden können.

Eine rigide Einschränkung von Durchführungsmöglichkeiten wurde von den Krankenkassen schon bei der Einführung der „Rehabilitationseinrichtung für psychisch Kranke (RPK)“ praktiziert. Ein nach jahrelangen zähen Verhandlungen zwischen den beteiligten Sozialleistungsträgern gefundener Kompromiss wurde von den Krankenkassen durch plötzliche Vorgabe eine Mindestgröße von 50 PRK-Plätzen torpediert, wodurch die als gemeindenahe Einrichtung konzipierte RPK zu einer gemeindefernen Einrichtung werden musste.

Eine Variante der ambulanten Soziotherapie ist im Kleide der integrierten Versorgung wieder auferstanden. Die Krankenkassen sehen in der integrierten Versorgung v. a. die Möglichkeiten zur Kostenreduktion durch Verhinderung (unnötiger) stationärer Aufenthalte, was in der Ausformulierung der Richtlinien für die ambulante Soziotherapie schon als vorrangiges Ziel genannt wurde.

Die Psychiatrie hat sich dem Modell der integrierten Versorgung nur sehr zögerlich angenommen. Alle Beteiligten hatten sich inzwischen einigermaßen komfortabel in der psychiatrischen Versorgung eingerichtet. Das Modell der integrierten Versorgung, so wie es gegenwärtig in Niedersachsen erprobt wird, ermöglicht ein Komplexleistungsprogramm für schwerer psychisch Kranke durch den koordinierten Einsatz niedergelassener Psychiater und ambulanter psychiatrischer Pflegedienste. Aber auch in Niedersachsen gibt es bisher nur relativ wenige Orte, wo ambulante psychiatrische Krankenpflege angeboten wird. In den Flächenländern Sachsen, Thüringen, Bayern, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern gibt es jeweils nur einen einzigen Dienst, der die Zulassung zu ambulanter psychiatrischer Pflege erhalten hat.

Seit 10 Jahren ist Soziotherapie verordnungsfähig. Bis heute ist es in den meisten Bundesländern nicht gelungen, eine flächendeckende Versorgung mit Soziotherapie auch nur in Ansätzen zu erreichen [2]. Den Großstädten, wo Soziotherapie am ehesten zum Einsatz kommt, stehen große Flächenregionen gegenüber, in denen Soziotherapie noch nie oder nur in wenigen Fällen verordnet wurde.

Zur Verfügbarkeit von Soziotherapie ein paar Daten, jeweils bezogen auf 100 000 Einwohner: Die Anzahl zugelassener Soziotherapeuten variiert zwischen den Bundesländern um den Faktor 40 (von 0,05–2,0). Tatsächlich bewilligte Soziotherapiefälle variieren zwischen 0,5 und 30 Fällen, wobei nur in 3 Bundesländern mehr als 10 Fälle/100 000 EW erreicht werden [3]. In Baden-Württemberg nahmen die Anträge auf Gewährung von Soziotherapie von 2006−2010 um 27 % ab, die Zahl der Bewilligungen um 19 % [4]. Auch aus anderen Bundesländern wird die Abnahme von Soziotherapiefällen berichtet.

Im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zur Soziotherapie wurde die maximale Mehrbelastung der GKV durch Gewährung von Soziotherapie auf 125 Mio. im ersten und auf 250 Mio. im zweiten Jahr nach Einführung geschätzt. Im Jahr 2008 betrugen die Ausgaben der GKV für Soziotherapie rd. 3,4 Mio. Euro und damit 1,4 % (!) der prognostizierten 250 Mio. €.

Das Scheitern der Soziotherapie war durch 2 Bedingungen vorprogrammiert: durch unrealistisch hohe Ansprüche an die Qualifikations- und Erfahrungsprofile der zuzulassenden Leistungserbringer und durch prohibitiv niedrige Vergütungssätze. Die Stundenvergütungen der Soziotherapeuten variieren zwischen 28 € in Thüringen und 44,90 € in Bremen. In vielen Diensten war die soziotherapeutische Leistungserbringung bisher nur durch Querfinanzierung aus anderen Leistungsbereichen möglich, was kein tragfähiges Finanzierungsmodell sein kann. Die verordnungsberechtigten Nervenärzte/Psychiater beklagen einen zu hohen administrativen Aufwand für die Antragstellung und eine nicht annähernd kostendeckende Vergütung für die von den Durchführungsrichtlinien geforderten Abstimmungen mit den soziotherapeutischen Leistungserbringern.

Was bleibt, wenn wir uns aus den Niederungen der Interessenpolitik begeben? Seit 30 Jahren wird versucht, ambulante Komplexleistungsprogramme für schwerer psychisch Kranke in die Regelversorgung einzuführen. Die meisten Ansätze sind gescheitert, angefangen von den Versuchen im Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung in den 80er-Jahren, Sozialarbeiter in die Praxen niedergelassener Psychiater zu integrieren, was schon daran gescheitert ist, dass niedergelassene Psychiater dieses unternehmerische Risiko nicht tragen konnten oder wollten. Die ambulante Soziotherapie ist gescheitert, weil die Krankenkassen ihr Misstrauen gegenüber diesem Komplexleistungsprogramm nicht überwinden konnten oder wollten. Die ambulante Soziotherapie ist zu einem Nischenprodukt geworden. An wem wird die integrierte Versorgung scheitern, bzw. wessen Interessen steht jetzt dieses Modell entgegen?

Zusammenfassend können wir uns alle fragen, wieso sich die psychiatrische Versorgung immer unter das Primat der Kostenreduktion stellen lässt? Das Credo der Kostenreduktion haben fast alle auf ihre Fahnen geschrieben, während die anderen medizinischen Fächer oft hemmungslos zu expandieren scheinen. Es wäre an der Zeit, dass wir die Qualität der psychiatrischen Versorgung Vorrang gegenüber Kostenaspekten geben.

 
  • Literatur

  • 1 Melchinger H, Machleidt W. Ambulante Soziotherapie als Kassenleistung – wann wird sie anwendbar sein?. Sozialpsychiatrische Informationen 2004; 2: 35-42
  • 2 Krüger U. Theorie und Praxis der ambulanten Soziotherapie. Ergebnisse und Evaluation. Vortrag am 24.02.2010. www.apk-ev.de/Datenbank/downloads/Soziotherapie
  • 3 Köpke M. Zukunft der ambulanten Soziotherapie für psychisch Kranke. Handlungsoptionen der Länder. Vortrag am 24.02.2010. www.apk-ev.de/Datenbank/downloads/Soziotherapie
  • 4 Liga der freien Wohlfahrtspflege e. V. Jahresbericht 2009. Dokumentation der Sozialpsychiatrischen Dienste. SpDi_Dokumentation_2009.pdf
  • 5 Melchinger H. Ambulante Soziotherapie Evaluation und analytische Auswertung des Modellprojekts „Ambulante Rehabilitation psychisch Kranker“ der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen. Baden-Baden: Nomos; 1999
  • 6 Frieboes RM. Soziotherapie gemäß § 37a SGB V. der Nervenarzt 2003; 74: 596-600
  • 7 Schreckling S. Ambulante wohnortnahe Versorgung und Rehabilitation psychisch Kranker in der Vernetzung Band 12 interdisziplinäre Schriften zur Rehabilitation. Ulm: Univ. Verlag; 2004
  • 8 Bergmann F, Roth-Sackenheim C, Schreckling S. Rehabilitation der ambulanten Facharztpraxis. In: Rehabilitation bei psychischen Störungen. München: Urban und Fischer Elsevier GmbH; 2005: 293-304
  • 9 Frieboes RM, Schreckling S. Ambulante Soziotherapie (§ l37 a SGB V). In: Rehabilitation bei psychischen Störungen. München: Urban und Fischer Elsevier GmbH; 2005: 3095-3309
  • 10 Godel-Ehrhardt P. „Der Keil in der Drehtür“. Psychosoziale Umschau 2005; 3/18