ZWR - Das Deutsche Zahnärzteblatt 2011; 120(12): 656-657
DOI: 10.1055/s-0031-1300988
Colloquium
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Erste Erfahrungen und Fragen – Selbstlimitierende Kariestherapie

D. Dortmann
,
K. H. Kunzelmann
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Publication Date:
28 December 2011 (online)

Die Härte des aus Polymer gefertigten PolyBur P1 ist geringer als gesundes und höher als kariös verändertes, nicht erhaltungsfähiges Dentin. Damit soll er bei der Exkavation helfen, einen reproduzierbaren therapeutischen Endpunkt in die Praxis umzusetzen. Die Theorie: Abschied nehmen vom blütenweißen Kavitätenboden und Vertrauen setzen in die Remineralisationsfähigkeit des Zahnes. Dr. Dominik Dortmann, Mülheim-Kärlich, beschreibt seine ersten Eindrücke beim selbstlimitierenden Exkavieren und erhält Antwort auf manch skeptische Frage vom Mitentwickler des Rosenbohrers aus Polymer, Prof. Karl-Heinz Kunzelmann, München.

Dr. Dortmann: Komet stellte auf der IDS 2011 einen Rosenbohrer vor, dessen Schneiden abstumpfen, sobald sie auf gesundes, hartes Dentin stoßen. Die Theorie vom "selbstlimitierenden Bohren" gefiel mir, denn wir Praktiker kennen ja diese unter sich gehenden Bereiche oder Karies vortäuschenden Verfärbungen, also Situationen, in denen man unsicher wird. Wir arbeiten in unserer Praxis dann gerne mit CariesDetector. Dabei stellen wir immer wieder fest, dass die intensive rote Farbe nach dem Abtragen der nächsten Dentinschicht nicht plötzlich verschwindet, sondern verblasst. Eine eindeutige Grenze ist nur schwer zu erkennen und ich denke, dass bei dieser Fragestellung der PolyBur ansetzt.

Prof. Kunzelmann: Wir müssen uns davon verabschieden, nach der absoluten Grenze zwischen infected/affected Layer zu suchen, sie existiert so nicht. Vielmehr handelt es sich um nicht abgrenzbare, bakterielle Diffusionsprozesse. Adäquater sollte man heute von Gradienten sprechen, die Sie, Herr Dr. Dortmann, als abgestuftes Farbspiel beim Einsatz des CariesDetector sehen. Sie dürfen sich also eine allmählich abnehmende Bakteriendichte von der Läsion weg in Richtung unverändertes Dentin vorstellen, was in einem zunehmenden Grad an Mineralisation und Härte resultiert. Folgt man den wissenschaftlichen Untersuchungen von Fusayama, wird nur die intensive Rotfärbung entfernt, während geringe Spuren einer blassrosa Verfärbung einfach ignoriert werden. Mit dem CariesDetector können Sie also nicht eindeutig zwischen den Dentinanteilen differenzieren, dennoch kann ich Ihnen versichern, dass das Konzept wissenschaftlich valide ist.

Dr. Dortmann: Dann bleibt mir zur Kontrolle der altehrwürdige Sondentest – das "cri dentaire", das Klirren der Sonde auf weißem Kavitätenboden. Es gibt aber diese demineralisierte Dentinschicht, die die Sonde nicht klirren lässt und sich "ledern" anfühlt, die aber die Kraft zur Remineralisation hat. Wenn ich den selbstlimitierenden PolyBur beim exkavieren anwende, weiß ich, dass er mir diese Schicht erhält. Insgesamt aber hinterlässt er einen viel weicheren Kavitätenboden, als man es gewöhnt ist – so weich, dass der Sondentest wohl hinfällig ist. Ich muss gestehen ... dabei habe ich ein schlechtes Bauchgefühl. Es widerspricht auf dem ersten Blick allem, was mich meine Ausbildung und Praxiserfahrung gelehrt haben. Ein Paradigmenwechsel für den Praktiker!

Prof. Kunzelmann: Die weichere Oberfläche ist ein ganz wesentlicher Punkt bei der Beurteilung selbstlimitierender Exkavationsverfahren, zu denen neben dem PolyBur z. B. auch proteolytische Enzyme, Carisolv und fluoreszenzgesteuerte Laser zählen. Dabei ist es doch ganz logisch: Jedes Verfahren, das substanzschonend arbeitet und seinen Behandlungsendpunkt im demineralisierten Dentin hat, muss zwangsläufig eine weichere Oberfläche hinterlassen. Deshalb müssen auch alle Studien, die über die Dentinhärte argumentieren, neu bewertet werden. Ein grundsätzliches Umdenken im Kopf der Behandler wird über die Zukunft dieser Systeme entscheiden. Die Übertherapie zu beenden, heißt aber auch, endlich die große Variabilität der Karies anzuerkennen und den therapeutischen Endpunkt irgendwo in dem Bereich des demineralisierten, aber noch nicht denaturierten Dentins zu suchen. Jeder Behandler sollte sich bewusst machen: Wenn die Sonde klirrt und der Kavitätenboden weiß erstrahlt, wurde definitiv übertherapiert und wertvolle Zahnhartsubstanz zerstört.

Dr. Dortmann: Die Aussage mag korrekt sein, dennoch wird es schwer sein, eine – wenn auch veraltete – Lehrmeinung einfach so über Bord zu werfen. Ich habe bisher erfolgreich mit Rosenbohrern exkaviert und mir dabei viel Taktilität erarbeitet. Ich darf behaupten, dass ich dabei sehr vorsichtig und maximal schonend vorgehe. Grundsätzlich habe ich auch kein Problem damit, all diese Erfahrung nun aufzugeben und mich auf einen Polymerbohrer zu verlassen. Aber mir fehlt immer noch das entscheidende Argument, warum ich mich jetzt umstellen und den PolyBur zusätzlich einsetzen sollte.

Prof. Kunzelmann: Selbstverständlich kann man auch mit klassischen Instrumenten, wie Handexkavatoren oder Rosenbohrern, Karies schonend entfernen. Diese Instrumente sind jedoch so hart, dass sie auch gesundes Dentin entfernen können. Eine schonende Anwendung basiert also ausschließlich auf Ihrer Erfahrung als Anwender. Limitierende Verfahren liefern dagegen einen objektiv nachweisbaren, reproduzierbaren Endpunkt. Ich betone immer wieder, dass ich den PolyBur nur für die weiche, pulpanahe Karies bei klinisch symptomlosen Milch- und bleibenden Zähnen indiziert sehe, insbesondere bei versteckter Karies. Wenn Sie die peripheren Anteile mit dem klassischen Instrumentarium entfernt haben, soll Ihnen der PolyBur abschließend die Sicherheit geben, nicht die Pulpa zu eröffnen. Im Vergleich zu Hartmetallbohrern kann der PolyBur die Ausschlag gebenden 0,5–0,7 mm schonen - eine remineralisierbare Schicht, die zwischen Füllungstherapie und Endo entscheidet. Wird die Pulpa doch eröffnet, war es nicht zu vermeiden.

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Abb. 1 Micro-CT-Auswertung: Es ist deutlich zu sehen, welche Bereiche mit dem Hartmetall-Bohrer (rot) bzw. mit dem PolyBur (grün) entfernt werden. Der Substanzerhalt ist deutlich.

Dr. Dortmann: Innerhalb der Kinderzahnheilkunde sehe ich den PolyBur auch absolut indiziert, denn es ist bekannt, dass partiell mineralisierte Milchzähne nach einer Verkappung mit Kalziumhydroxid tatsächlich die Potenz haben, sich zu regenerieren. Das erleben wir bei den jungen Patienten in unserer Praxis tagtäglich! Innerhalb der Erwachsenentherapie schwingt bei mir dennoch Unsicherheit mit. Wer garantiert mir denn, dass diese partiell demineralisierte Dentinschicht, die durch den PolyBur unter der adhäsiven Füllung verbleibt, nicht mittelfristig doch zu einer Pulpitits führt?

Prof. Kunzelmann: Man weiß heute, dass sich weiches Dentin unter einer dichten Adhäsivfüllung remineralisieren kann. Die Frage lautet also nicht mehr: Soll ich mich für die ultrakonservative Kariestherapie entscheiden oder nicht? Die Frage lautet heute: Wie kann ich die ultraschonende Kariestherapie zuverlässig, reproduzierbar und effizient erreichen? Ihre Bedenken, dass mit dem PolyBur nicht genug Karies entfernt wird, können wir momentan z. B. durch die Studien rund um Carisolv entschärfen. Der PolyBur entfernt zwar weniger Dentin als Hartmetallbohrer aber mehr als Carisolv. Und von den über 100 verfügbaren Publikationen zu Carisolv beurteilt die überwiegende Mehrzahl der Autoren die Ergebnisse positiv. Die formale Logik lässt also zu, dass somit der PolyBur erst recht genug Dentin entfernt, um keine Pulpitis entstehen zu lassen. Studien zum PolyBur sind an mehreren Hochschulen im Gange und die Zwischenergebnisse vielversprechend.

Dr. Dortmann: Nach einer Behandlung mit dem PolyBur stellt sich die verbliebene, demineralisierte Schicht in der Röntgenkontrolle wie ein Kariesrezidiv dar. Ich kläre meine Patienten darüber auf und betone, dass hierdurch eventuell ein endodontischer Eingriff vermieden werden konnte. Sollte der Patient jedoch den Behandler wechseln, könnte leicht der Vorwurf entstehen, dass ich keine saubere Arbeit geliefert hätte.

Prof. Kunzelmann: Ja, leider bewirken alle selbstlimitierenden Verfahren, dass die Röntgenstrahlen in dieser Schicht weniger absorbiert werden. Doch Sie machen alles richtig: Die beste Strategie ist es, den Patienten auf diese Situation hinzuweisen. Wir stehen noch am Anfang unserer "Aufklärungsarbeit" – wir, das sind 6 renommierte, deutsche Hochschulprofessoren, die den Trend zu mehr Substanzschonung in der Kariestherapie ab jetzt massiv vorantreiben werden. Meine Studenten in München werden mit den Möglichkeiten der selbstlimitierenden Kariestherapie "groß", und das Prinzip wird mittelfristig von den Universitäten aus die Praxen erobern. Insofern werden auch Ihre Kollegen das Röntgenbild bald korrekt zu deuten wissen. Übrigens: Meine Studenten lieben den blauen PolyBur, er nimmt ihnen deutlich den Stress beim pulpanahen Arbeiten.

Dr. Dortmann: Das kann ich im Rahmen der Kinderzahnheilkunde nur bestätigen. Die Behandlung mit PolyBur erfordert aber immer eine erweiterte Dokumentation und Nachkontrolle (Vitalitätstest). Und wenn ich mich bei einem Erwachsenen im ein oder anderen Fall dann doch mit einer korrekt ausgeführten Vital¬extirpation und anschließenden Wurzelkanalbehandlung auf der sichereren Seite fühle und damit das Risiko einer für den Patienten extrem unangenehmen Pulpitis vermeide ...

Prof. Kunzelmann: ... dann sollten Sie sich einmal selbst die Frage stellen: Möchte ich, dass bei mir eine endodontische Behandlung vorgenommen wird, wenn diese durch ein zusätzliches Einweginstrument vermieden werden könnte? An unserem Lehrstuhl führe ich für jede Endo, die uns durch den PolyBur erspart bleibt, ein mentales "Pulpa-Lebensrettungsregister".