Zahnmedizin up2date 2012; 6(2): 175-192
DOI: 10.1055/s-0031-1298423
Prothetik
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Orale Parafunktionen und Abrasion der Zähne

Ulrich Lotzmann
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Publication Date:
09 May 2012 (online)

Einleitung

Ein essenzieller Kofaktor in der Ätiopathogenese von Karies und Parodontitiden ist die Plaque. Davon abgesehen sind es vor allem die Parafunktionen des Kauorgans, die zu einer Fehlbelastung und Destruktion von Gewebsstrukturen und Zahnersatz führen können. Ein erster Hinweis auf Parafunktionen sind oftmals altersuntypische starke Abrasionen auf den Okklusal- oder Inzisalflächen der Zähne. Parafunktionen müssen aber nicht immer mit Schäden an der Zahnhartsubstanz einhergehen, sondern können sich auch in der Traumatisierung anderer Gewebe manifestieren.

Unter Parafunktionen des Kauorgans versteht man in Dauer und Kraft exzessiv ausgeführte Bewegungen von Unterkiefer, Lippen, Wangen und Zunge, die nicht der Kau-, Schluck- oder Sprechfunktion dienen. Schon Drum weist 1969 in seinem Buch „Parafunktionen und Autodestruktionsprozess“ zu Recht darauf hin, dass „nicht bei allen Menschen das Kausystem ‚in Funktion‘ ist, wenn gekaut wird und ‚in Ruhe‘, wenn nicht gekaut wird“ [1].

Auch wenn diese oralen Parafunktionen auf den ersten Blick keinen funktionellen Zweck erkennen lassen, können sie bewusst oder unbewusst – und durchaus zielgerichtet – zur Beseitigung von Störungen an Zähnen und Zahnersatz sowie zum Abbau innerer Spannungen und Aggressionen durchgeführt werden.

Im allgemeinen zahnmedizinischen Sprachgebrauch werden orale Parafunktionen oftmals auf den Bruxismus reduziert, das unbewusste Zähnepressen und Zähneknirschen. Unter diagnostischen und therapeutischen Aspekten ist es jedoch sinnvoll, die unterschiedlichen Formen von Parafunktionen des Kauorgans zu unterscheiden in:

  1. nonokklusale Parafunktionen

    • ohne dentalen Trigger

    • mit dentalem Trigger

  2. okklusale Parafunktionen

    • ohne dentalen Trigger

    • mit dentalem Trigger

Merke: Von dental getriggerter Parafunktion spricht man, wenn sie durch Form, Stellung oder Okklusion der natürlichen Zähne oder des Zahnersatzes ausgelöst oder verstärkt wird.

Grundsätzlich können nonokklusale und okklusale Parafunktionen eine gleichermaßen große traumatisierende Wirkung auf die belasteten Gewebsstrukturen ausüben und dadurch zu Schmerzen im Kopf-, Hals- und Nackenbereich führen. Exzessive orale Parafunktionen entstehen durch muskuläre Hyperaktivität und Hypertonizität einzelner Muskeln oder Muskelgruppen der Kaumuskulatur, der Kauhilfsmuskulatur oder der mimischen Muskulatur. Mechanische Schädigungen von Gewebsstrukturen sind vor allem dann zu erwarten, wenn die Kaumuskulatur als eigentlicher „Motor“ des Unterkiefers die zur Überlastung der Gewebe führenden Kräfte produziert [2].

„Dosis facit venenum – Die Dosis macht das Gift“: Diese Erkenntnis von Paracelsus gilt auch für die Wirkung der Parafunktionen. Neben der Dauer und Stärke ist die Belastungsrichtung für das Traumatisierungspotenzial entscheidend. Problematisch sind vor allem exzessive Unterkieferverlagerungen nach dorsal, dorsokranial oder dorsolateral. So gehen aus der maximalen Okklusion oder Ruhelage nach retral ausgeführte Parafunktionen mit einer erhöhten Aktivität der Retraktoren und einer Kompression der bilaminären Zone des Kiefergelenks einher. Wird die Parafunktion unter Zahnkontakt ausgeübt, so finden sich bevorzugt auf den Retrusionsfacetten der Seitenzähne Abrasionsspuren. Alle Parafunktionen, die die Kondylen in eine dorsale, dorsokraniale oder dorsolaterale Grenzstellung führen, können neben der schmerzhaften Reaktion des überbelasteten Gewebes auch den retrusiven und lateralen Bewegungsraum des Unterkiefers ausweiten. Es resultieren dann neue okklusale Kontaktbeziehungen und gegebenenfalls auch okklusale Störungen in exzentrischen, d. h. hier in retrusiven und lateralen Unterkieferpositionen. Dies mag erklären, warum prothetische Versorgungen nicht immer langfristig stabil bleiben, sondern mit Ausweitung des mandibulären Bewegungsraums neue okklusale Interferenzen aufweisen können, selbst wenn sie technisch aufwendig und unter funktionellen Aspekten lege artis ausgeführt wurden.

Es gibt nach heutigem Wissenstand keinen Beleg dafür, dass Muskelaktivitäten, wie sie beim normalen Kauen, Schlucken und Sprechen auftreten, zu einer dauerhaften Schädigung des Kauorgans führen. Es sind vielmehr die unkontrollierten und exzessiven Parafunktionen, die schließlich in pathologische Veränderungen der belasteten Gewebe münden [1].

Ob die Parafunktion auch langfristig erfolgreich mit primär zahnmedizinischen Mitteln behandelt werden kann, hängt davon ab, ob sie dental getriggert, d. h. durch dentale Ursachen ausgelöst wird.

Merke: Nur wenn der auslösende Faktor (Trigger) der Parafunktion in der Stellung und Form der Zähne oder des Zahnersatzes liegt, ist eine kausale Therapie durch eine zahnmedizinische Korrektur denkbar.

Beispielsweise kann eine okklusale Störung Parafunktionen des Unterkiefers verursachen, oder aber die fehlerhafte Form von Zahnersatz wie etwa ein abstehender Kronenrand löst Parafunktionen der Zunge aus. Es ist daher ein wesentlicher Aspekt der zahnärztlichen Funktionsdiagnostik, nach möglichen Triggern der Parafunktion zu fahnden. Wird vermutet, dass die geklagten Kopf- und Gesichtsschmerzen auf die parafunktionelle Aktivität des Patienten zurückgeführt werden können, so empfiehlt sich die Durchführung eines Provokationstests. Dazu imitiert der Patient die verdächtigte Parafunktion (z. B. Pressen oder Knirschen) über ca. 10 Sekunden (Abb. [1]). Werden die geklagten Beschwerden ausgelöst oder verstärkt, kann dies als weiterer Hinweis (Cave: nicht Beweis) für einen Kausalzusammenhang zwischen der verdächtigen Parafunktion und den Schmerzen gewertet werden.

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Abb. 1 Reagiert der Patient mit Missempfindung oder Schmerz auf den Provokationstest (hier in einer rechtslateralen Unterkieferposition durchgeführt), so weist das darauf hin, dass die geklagten Beschwerden auf die verdächtigte Parafunktion zurückgeführt werden können.
 
  • Literatur

  • 1 Drum W. Parafunktionen und Autodestruktionsprozesse. Ein neues Parodontose-Bild. Berlin: Die Quintessenz; 1969
  • 2 Graber G. Der Einfluß von Psyche und Stress bei dysfunktionsbedingten Erkrankungen des stomatognathen Systems. In: Koeck B, Hrsg. Funktionsstörungen des Kauorgans. München: Urban & Schwarzenberg; 1995
  • 3 Shedden Mora MC, Bleichhardt G, Weber D et al. Biofeedback bei kraniomandibulären Dysfunktionen – vorläufige Wirksamkeit und Akzeptanz eines Biofeedback-gestützten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapiekonzeptes. Psychotherapeut 2010; 55 (3) 217-224
  • 4 Teaford MF. A review of dental microwear and diet in modern mammals. Scanning Microsc 1988; 2 (2) 1149-1166
  • 5 Schmidt CW. On the relationship of dental microwear to dental macrowear. Am J Phys Anthropol 2010; 142 (1) 67-73
  • 6 Klimm W, Graehn G. Der keilförmige Defekt. Berlin: Quintessenz; 1993
  • 7 Lobbezoo F, Hamburger H, Naeije M. Etiology of Bruxism. In: Paesani DA, ed. Bruxism. Theory and Practice. London: Quintessence; 2010: 53-65
  • 8 Thielemann K. Das Gleithindernis als ätiologischer Faktor für die Lokalisation der Paradentose. Dtsch zahnärztl Wschr 1935; 50: 1194-1197
  • 9 Johansson A, Omar R, Carlsson GE. Bruxism and prosthetic treatment: a critical review. J Prosthodont Res 2011; 55 (3) 127-136