DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2012; 10(2): 1
DOI: 10.1055/s-0031-1298283
DO | Editorial
Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart · New York

Editorial

Peter Wührl
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
04. April 2012 (online)

Liebe Leserinnen und Leser,

Schmerzen zu haben, ist äußerst zermürbend und bringt uns an die Grenzen unserer Leidensfähigkeit: Der Kopf will zerspringen und kann es nicht, der Bauch krampft, ohne sich lösen zu können, der Arm fühlt sich an, als würde jemand darin sägen. Schmerz lokalisiert, fixiert und zwingt uns in den Körper. Im Schmerz erfolgt eine Rückzugsbewegung, in der die existenzielle Vertrautheit mit uns und der Welt zerbricht.

Schmerzen haben eine akute Qualität: Sie schreien. Aber wonach? Nach Hilfe und Linderung? Oder schreit der Schmerz, um sich auszudrücken und nicht im Inneren und in der Rückzugsbewegung stecken zu bleiben? Dann wären der Schmerz und sein Schrei bereits eine Form der Kommunikation. Die Sprache des Schmerzes will das Gegenüber ansprechen und in einen Dialog verwickeln. Doch ein entscheidender Unterschied zwischen der Sprache und der Körpersprache darf nicht verwischt werden. Während das in der Sprache Ausgedrückte nicht notwendig auf die Materialität der Zeichen verweist, bleibt der körpersprachliche Ausdruck organgebunden. Der Ausdruck des Schmerzes ist die organgebundene Sprache verkörperten Erlebens.

Obwohl einer der Hauptanlässe für die Konsultation eines Osteopathen, hat die Osteopathie ein gespaltenes Verhältnis zum Schmerz. Manche Osteopathen weisen den Schmerz und seinen Ort als uninteressant oder als zu ignorierendes Täuschungsmanöver des Körpers zurück. Diese Haltung hat inzwischen die Öffentlichkeit erreicht und zu der fast schon satirischen Definition der Osteopathie durch eine Krankenkasse geführt: Osteopathen behandeln dort, wo das Problem nicht ist. Die aktuelle Schmerztherapie geht noch weiter, wenn sie den Patienten erklärt: Sie spüren zwar den Schmerz im Arm, aber eigentlich entstehe er im Kopf. Diese physiologische Erklärung, die vom Ort des Erlebens wegführt, übernimmt die Deutungshoheit über ein Phänomen, das im ersten Moment kein medizinisches ist und daher jeden medizinischen Rahmen sprengt. Eine relativ neue Bewegung in der Osteopathie – das Fasziendistorsionsmodell nach Stephen Typaldos – traut hingegen dem Schmerz viel zu, wenn sie die Ausdrucksgeste des Patienten zur handlungsleitenden Hypothese der Behandlung erhebt. Ernster können wir den Schmerz der Patienten nicht nehmen. Nur muss sich diese Deutung der Herausforderung stellen, dass die Körpersprache des Schmerzes mehr ausdrückt als den Königsweg zu dessen Aufhebung. Im körpersprachlichen Ausdruck des Schmerzes steckt nämlich die existenzielle Erfahrung des In-Schmerzen-Seins und die osteopathische Therapie müsste mit diesem Ausdruck in Kontakt kommen, will sie mitfühlend, nachspürend und verstehend sich den Patienten zuwenden.

Peter Wührl