Suchttherapie 2011; 12 - S6_12
DOI: 10.1055/s-0031-1284511

Zur klinischen Bedeutung der affektiven Dysregulation und der Bipolarität bei abhängigkeitserkrankten Jugendlichen–Literaturübersicht

O Bilke-Hentsch 1, T Hellenschmidt 2
  • 1Schweizer Institut für Suchtfragen und Therapie von Abhängigkeitserkrankungen. Kind.Jugend.Familie., Frauenfeld, Schweiz
  • 2Vivantes Netzwerk für Gesundheit - Klinik für KJPPP, Berlin

Juvenile Hypomanien und schwere affektive Dysregulation haben in der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie seit 2000 stärkere Beachtung gefunden. Diese Störungen werden klinisch systematisch unter- und fehldiagnostiziert und wissenschaftlich wenig bearbeitet. Dieses Missverhältnis gilt für das Jugendalter, da Manien und hypomane Zustände klinisch offensichtlich schwerer als bei Erwachsenen zu erkennen sind. Bei Kindern ist die Diagnose bipolarer Störungen realiter derart selten, dass sie vielerorts bislang de facto nicht vorkommt.

Reizbares, impulsives, aufmerksamkeitsgestörtes, hyperaktives oder aggressives Verhalten von suchtkranken Kindern und Jugendlichen ist nicht immer dem ADHS-Spektrum, der Dissozialität oder dem Konsum selbst zuzuordnen. Die bipolare Episodenfrequenz ist erhöht und die Episodendauer i.S. eines „ultradian cycling“ kurz. Die Episodenhäufigkeit führt zu einer Verkürzung der Krankheitspausen bei kurzen symptomfreien Intervallen. Fehldiagnosen entstehen durch mangelnde Exploration der Patienten und Eltern sowie Ablehnung der Diagnose durch den Kliniker. Problematisch ist die Eruierung von hypomanen Phasen (Bip-II), an die sich Patienten und Eltern als "pubertäre" Zustände oder scheinbar drogenassoziierte Probleme habituieren. Die Differentialdignostik hat Verlaufs- und Komorbiditätsaspekte zu berücksichtigen. Beschrieben sind Ängste, Zwänge, Persönlichkeitsstörungen (bes. instabile), Polytoxikomanie, Essstörungen, Störungen des Sozialverhaltens und ADHS.

Bipolare Störungen neigen zur Chronifizierung. Häufig wiederkehrende Formen beginnen zu einem erheblichen Anteil schon im Kindesalter, werden jedoch erst wesentlich später erkannt. Konsequenz einer ausbleibenden Bipolar-Diagnose in der Adoleszenz ist, dass Patienten, die vom Behandlungsansatz der bipolaren Psychosen profitieren könnten, inadäquat therapiert werden, Suchtstörungen persistieren und die schulische und soziale Integration scheitert.