Gesundheitswesen 2011; 73 - A220
DOI: 10.1055/s-0031-1283595

Rundherum unglücklich? Differenzieller Umgang mit Essen und Übergewicht. Milieu-, herkunfts- und gendersensible Adipositasprävention

R Rehaag 1, G Aydin-Canpolat 2
  • 1Leibniz Universität Hannover, Hannover
  • 2Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung, Essen

Einleitung/Hintergrund: Sozial benachteiligte Jugendliche, insbesondere mit Zuwanderungsgeschichte, leiden häufiger an ernährungsassoziierten Gesundheitsstörungen. Das Projekt „Verbesserung der Wirksamkeit der Adipositasprävention für sozial benachteiligte Jugendliche„ hat in einer explorativen Forschungsphase Übergewicht aus einer Alltagsperspektive untersucht. Daten und Methoden: In Gruppendiskussionen wurde gestaffelt nach Alter, Geschlecht und kulturellem Hintergrund erhoben, wie betroffene Jugendliche ihren Alltag beschreiben. Insgesamt 60 Jugendliche haben an der ersten Sequenz von Gruppendiskussionen teilgenommen. In einer zweiten Sequenz standen die Erfahrungen von Eltern übergewichtiger Kindern im Mittelpunkt. Ergebnisse: Das gestaffelte Erhebungskonzept ist der Tatsache geschuldet, dass die Entwicklung geeigneter Präventionsmaßnahmen eine hohe Sensibilität gegenüber den herkunfts- und genderspezifischen Erfahrungsmustern und Handlungsmöglichkeiten der Zielgruppen erfordert. So verweisen die Narrationen der Jugendlichen auf vielfältige herkunftsbedingte Unterschiede im Verhältnis zu Essen und Dicksein. Deutlich wird aber auch, dass sich die Wirkung herkunftsbedingter Stärken und Problemlagen überlagern oder auch kompensatorisch wirken können. So zeigen erste Auswertungen beispielsweise, dass türkische Jungen zwar mit Gesundheitsressourcen, wie einer starken und positiven Bindung an die eigene Ernährungskultur und einer ausgeprägten geschmacklichen Sensibilität ausgerüstet, aber dadurch nicht vor Übergewicht geschützt sind. In den Erzählungen der türkischen Mädchen werden vergleichbare Bindungen an die alimentäre Herkunftskultur nicht deutlich. Ihre eher herkunftsdistanzierte Haltung lässt sich dahingehend deuten, dass sie – angesichts ihrer deutlich engeren Rollenspielräume im familialen Kontext – geneigt sind, sich antizipierten Assimilationserwartungen der Mehrheitsgesellschaft zu unterwerfen. In einem nächsten Auswertungsschritt werden entsprechende Phänomene unter Gendergesichtspunkten und in Interaktion mit herkunftsbedingten Risikofaktoren analysiert. Erkenntnisleitend ist dabei die These, dass herkunftsbedingte Ressourcen im Ernährungsalltag türkischer Jugendlicher kaum zur Entfaltung kommen, weil sie durch Stigmatisierungserfahrungen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Minderheitenposition überlagert werden. Diskussion/Schlussfolgerungen: Der Vortrag reflektiert die Implikationen für eine herkunfts- und gendersensible Gestaltung der Adipositasprävention und unterstreicht die Notwendigkeit, in künftigen Studien über individuelle und familiale Faktoren hinaus zu gehen und stärker auf herkunftsbedingte Schutz- und Risikofaktoren zu fokussieren.

Literatur:

Uslucan, Haci Halil (2010): Resilienz und Ressourcenförderung bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. In: Zander, M. (ed): Resilienzförderung in der Kinder- und Jugendhilfe und im Bildungsbereich. VS-Verlag für Sozialwissenschaften