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DOI: 10.1055/s-0031-1283554
Die Versuchung des Fortschritts. Produktionsbezogene Gesundheitsgefährdungen und deren Abschätzung durch Selbstversuche
Einleitung/Hintergrund: Gesundheitsgefährdungen müssen für den Fortschritt in Kauf genommen werden – aber in Maßen. Das ‘Maß' wurde nicht zuletzt durch Versuche am Menschen bestimmt. Der anthropologische Kern liegt dabei in der produktiven Anpassungsfähigkeit des Menschen. Die Anpassungsfähigkeit wird in der Naturbeherrschung zur Handlungsvollmacht und mit der Industrialisierung zur entscheidenden Basis der Zivilisation. Ihre Problematik zeigt sich an den Rändern, also vor allem an den Gesundheitsgefährdungen und -schädigungen. Daten und Methoden: Die Untersuchungen sind als aufklärender historischer Vergleich angelegt. Die Betonung historisch-genetischer Sichtweisen verbindet die Berücksichtigung konkreter Vorgänge mit heuristischer Auswertung, angemessener Begrifflichkeit, übergreifender Systematik und theoretischer Perspektive. Diese Sichtweisen leiten die Auswertung archivalischer Quellen, u.a. in staatlichen Archiven, aber auch in Nachlässen von Helmut Paul oder von Hugo Freund. Ergebnisse: Die Auswertung der Quellen ermöglicht die Verbindung von einzelnen Ereignissen (Selbstversuche), mit Verfahren (Begutachtung z.B. in Berufskrankheitenverfahren) und Denkstilen (z.B. in der ärztlichen Forschung). Demnach wird Fortschritt an den Grenzen menschlicher Anpassungsfähigkeit vorbereitet, mit technologischer Beherrschung legitimiert und auf wirtschaftliches Wachstum ausgerichtet. Dieses Muster wurde durch Selbstversuche der Ärzte stabilisiert und in Sozialversicherungsverfahren verallgemeinert. In verschiedenen Etappen werden die Verbindungen deutlich: Johannes Müller steht für den Übergang von Lebenskraft zu Experiment, bei Max Pettenkofer kann der Zusammenhang von Haftpflicht und Grenzwertkonzeption aufgezeigt werden, Carl Duisberg versuchte Vergiftungen und Zumutbarkeit, Hans Eisele z.B. steht für die andauernde Widersprüchlichkeit kollektiver und individueller Verantwortung (Volksgemeinschaft und lebensunwertes Leben), Marie Curie versuchte die Atomenergie und erlebte die Irreversibilität. An diesen Beispielen werden paradoxe historische Erfahrungen in der Risikogesellschaft deutlich. Diskussion/Schlussfolgerungen: Selbstversuche geschahen in der naiven Annahme, der eigene Schaden wäre ein Korrektiv der Schädigung. Aber die Abschätzung der Gefährdungen drängt, wenn sie auf der Basis von Naturbeherrschung und Wirtschaftswachstum erfolgt, zur Legitimation des unbeherrschten Fortschritts. Auf diesem Weg müssen andere, politisch-programmatische Orientierungen Einhalt gebieten. Wissenschaftlich ist eine sozialpolitisch ausgerichtete, historisch reflektierte Public-Health-Forschung gefordert.