Einleitung/Hintergrund: Die von Manfred Sakel 1933 entwickelte Insulin-Koma-Therapie sollte durch Schockzustände
auf psychiatrische Patienten bzw. deren Krankheitssymptome einwirken. Es wurde ihnen
Insulin verabreicht, das sie in ein künstliches Koma versetzte, aus dem sie nach einiger
Zeit wieder zurückgeholt wurden. Schon damals war die Therapie umstritten, sowohl
was den Erfolg als auch die Durchführung betraf. Es wurde nicht nur das Leben der
Patienten riskiert, auch irreversibler Schäden waren möglich. Im Grunde war die Insulin-Koma-Therapie
eine Form von Menschenversuchen. Daten und Methoden: Gleichwohl fand die Therapieform weltweite Verbreitung. In gewissem Gegensatz stand
die Therapie zu den damals weit verbreiteten eugenischen Vorstellungen, die weniger
die Heilung von psychisch Kranken als deren Ausschluss aus der Vererbungskette forderten.
Der Vortrag zeigt am Beispiel baltischer Psychiater die Anwendung der Insulin-Koma-Therapie
und deren wissenschaftliche Auswertung im Kontrast zu deren Beteiligung an eugenischen
Projekten in Lettland und Estland – etwa der Durchführung von Zwangssterilisierungen
– sowie deren teilweise Involvierung in die nationalsozialistischen Krankenmorde.
Ergebnisse: Eugenische Vorstellungen und die Insulin-Koma-Therapie waren kein Gegensatz. Sowohl
die Therapieform als auch eugenischer Denkstil waren unter baltischen Psychiatern
weit verbreitet. Ein verbindendes Element war die inhumane Sichtweise der Patienten
als „minderwertig„. Im Lichte des eugenischen Engagements erscheint die Anwendung
der Menschenversuche als wissenschaftliche Profilierung. Aufgrund des negativen Menschenbildes
kann kaum von „humanitärer„ Motivation ausgegangen werden. Diskussion/Schlussfolgerungen: Die Anwendung der Therapieform verweist auf eine medizinische bzw. wissenschaftliche
Profilierungsstrategie. Die utilitaristische Legitimation erfolgte aus dem „wissenschaftlichen
Fortschritt„ und lässt sich damit auf andere Formen von Menschenversuchen übertragen.
Es lassen sich Bezüge zur Psychiatriepraxis des 19. Jahrhunderts mit ihrem inhumanen
Menschenbild herstellen, so dass sich die Insulin-Koma-Therapie, ähnlich wie die früheren
Schocktherapien mit Wasser und später mit Malariaerregern oder Kardiazol, eher als
Folter bzw. gezielte Gewaltanwendung charakterisieren lässt, die Krankheiten – ohne
deren ursächliche oder symptomatische Behandlung – aus dem Körper zu „zwingen„.
Literatur:
Björn Felder, Lettland im Zweiten Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern
1940–46. Paderborn: Schöningh, 2009. Verners Kraulis, „Über die Behandlung der Schizophrenie
mit protrahiertem Insulinchock,“ Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychatrie
166 (1939): 36–49. Therese Walther, Die „Insulin-Koma-Behandlung“ – Erfindung und
Einführung des ersten modernen psychiatrischen Schockverfahrens. Berlin: Antipsychiatrieverlag,
2000.