Rehabilitation (Stuttg) 2011; 50(06): 390-396
DOI: 10.1055/s-0031-1280819
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Medizinische Rehabilitation bei älteren Versicherten (55plus): Ergebnisse einer qualitativen Studie mit Rehabilitanden und Reha-Klinikern

Medical Rehabilitation of Middle-Aged Insurants (55-plus): Results of a Qualitative Study with Rehab Patients and Rehab Professionals
T. Krüger-Wauschkuhn
1   Institut für Sozialmedizin, Universität zu Lübeck
,
N. Pohontsch
1   Institut für Sozialmedizin, Universität zu Lübeck
,
R. Deck
1   Institut für Sozialmedizin, Universität zu Lübeck
› Author Affiliations
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Publication History

Publication Date:
05 October 2011 (online)

Zusammenfassung

Ziel der Studie:

Die Alterung der deutschen Bevölkerung, die Morbiditätsentwicklung und begrenzte Ressourcen erfordern ein gesundheits- und gesellschaftspolitisches Umdenken. Aufgrund der Zunahme von chronischen und multiplen Erkrankungen in höherem Alter und der Ausweitung der Lebensarbeitszeit wird die ­Bedeutung der medizinischen Rehabilitation ­zunehmen. Da sich die Zusammensetzung der Rehabilitanden analog zur Entwicklung der Bevöl­kerung verändert, stellt sich die Frage, ob das ­Behandlungsprogramm der Rehabilitation den Erfordernissen und Bedürfnissen älterer Rehabilitanden gerecht wird und welcher Anpassungsbedarf möglicherweise besteht.

Methodik:

Im Rahmen von 18 leitfadengestützten Fokusgruppen mit insgesamt 62 Rehabilitanden unterschiedlicher Indikationen im Alter>55 Jahre wurden Bedürfnisse und Erwartungen an die Rehabilitation sowie Verbesserungsvorschläge erfragt. Im Unterschied zu einer vorausgegangenen quantitativen Studie, in der die Reha-Bedürfnisse und Reha-Angebote von jüngeren und älteren Rehabilitanden einander gegenübergestellt wurden, handelte es sich hier um eine qualitative Studie, in der ausschließlich Rehabilitanden der höheren Altersgruppe befragt wurden. Die Ergebnisse wurden mit Experten in 3 multidisziplinär besetzten Gruppendiskussionen diskutiert. Die Gespräche wurden auf Tonträger aufgenommen, transkribiert und inhaltsanalytisch ausgewertet.

Ergebnisse:

Die Untersuchung zeigte vielfältige Bedürfnisse der Rehabilitanden bezüglich des Behandlungsablaufs auf. Der Wunsch nach einer stärkeren Patientenorientierung, insbesondere durch bessere Informierung und Mitspracherecht bei Therapieentscheidungen, spielte dabei eine zentrale Rolle. Ein konkreter, individueller Nachsorgeplan und regelmäßige Nachbefragungen könnten nach Ansicht der Rehabilitanden eine optimale Integration der Rehabilitationsinhalte in den Alltag ermöglichen und somit die Nachhaltigkeit der Rehabilitation steigern. Aus ­Expertensicht waren viele der geäußerten Bedürfnisse nachvollziehbar und berechtigt. Unter den aktuell bestehenden Bedingungen (zeitliche und personelle Restriktionen, Leitlinien) sei eine Umsetzung der rehabilitandenseitig geäußerten Vorschläge jedoch nur schwer realisierbar. Aus Sicht der Rehabilitanden und Experten sollten berufsbezogene Angebote und Hilfen bei der Umsetzung der Reha-Empfehlungen im Beruf intensiviert werden. Konsens herrschte auch hinsichtlich einer Ausweitung und Intensivierung der Nachsorge. Entgegen unseren Annahmen spielten ausschließlich auf das Alter bezogene Schwerpunkte aus Sicht beider Gruppen eine eher untergeordnete Rolle. Dennoch zeigten sich einige Bereiche, in denen die älteren Rehabilitanden Optimierungsbedarf sahen. Die Probleme, die sich auf das Rehabilitationsgeschehen generell bezogen, stehen zwar nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Alter, könnten aus unserer Sicht dennoch ältere Rehabilitanden stärker belasten.

Schlussfolgerung:

Die Optimierung einzelner Aspekte des R­ehabilitationsgeschehens mit Blick auf nachhaltige Behandlungserfolge bei älteren Rehabilitanden sollte in Erwägung gezogen werden. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der individuellen Unterstützung und der Förderung von Eigenverantwortung im Umgang mit der Krankheit zu. Besonders für ältere Rehabilitanden erscheinen hierfür ein bedürfnisgerechtes Informationsangebot und ein fester Rückhalt durch eine strukturierte Reha-Nachsorge, gegebenenfalls in Form einer längerfristigen Anbindung an die Reha-Klinik, erforderlich.

Abstract

Objective:

Due to the demographic aging process of Germany’s population, the development of morbidity and limited resources, a rethinking is needed in the fields of healthcare and social policy. The medical rehabilitation system will be of particular importance because of the increase of chronic and multiple illnesses in older age groups and the postponement of the retirement age. As the composition of rehabilitation patients will reflect broader demographic changes the question arises whether treatment plans of rehabilitation clinics will meet the demands and needs of older rehabilitation patients and which changes in rehabilitation processes might be required.

Methods:

In 18 semi-structured focus groups, 62 rehabilitation patients with different indications aged over 55 years were asked about their needs, expectations and suggestions for improvement of the rehabilitation process. In contrast to previous quantitative research focusing on a comparison of rehabilitation needs and treatment offers of different age groups, only older rehabilitation patients were interviewed in this qualitative study. The results were discussed with health care experts in 3 multi-disciplinary focus groups. The conversations were recorded, transcribed and analysed using the content analysis approach.

Results:

The study showed a wide range of needs of rehabilitation patients concerning the treatment process. The desire for more patient-centred care, especially through improved provision of information and patient participation rights in therapeutic decisions, was an important aspect. A detailed individual plan of aftercare and following-up patients regularly can facilitate the integration of rehabilitation-related aims into everyday life and therefore enhance the sustainability of rehabilitation. According to the experts, many of the needs mentioned were comprehensible and legitimate. Under the present circumstances (restrictions of time and personnel, guidelines), however, implementation of the proposals made by the rehabilitation patients was considered difficult to realize. Rehabilitation patients and experts ­agreed in that elements of occupational therapy should be expanded and transferred into real occupational setting and that intensified aftercare is needed. Contrary to our expectations, age-related aspects played a subordinate role according to both groups. Nevertheless, older rehabilitation patients saw a need for improvement in several areas of the rehabilitation process. Although the problems related to the rehabilitation process ­generally may not be directly age-related they might constitute a heavier burden for older patients.

Conclusions:

Optimizing various aspects of medical rehabilitation to reach sustainable outcomes in older rehabilitation patients appears to be necessary. Encouraging patients’ individual responsibility for coping with the disease plays a key role in this process. Offering information tailored to patients’ needs and provision of well-structured aftercare seem to be required especially for those older than 55.

 
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